Die komplexe Arbeit des Vergessens

Über die öffentliche Routine des Erinnerns, die zum Vergessen da ist, oder: Warum die Gesellschaft laufend Schemen produziert, die das Sich-erinnern-Müssen unterdrücken. Eine systemtheoretische Handreichung für alle Arten von Gedenktagen

Gedenkminuten sind Wegdenkminuten, wenn sie verordnet werdenSubversiv wäre es, hoch Schematisiertes als Problem zu behandeln

von PETER FUCHS

Dass ein Volk, eine Nation, eine Partei sich erinnern müsse an das, was in ihrer jeweiligen Geschichte großartig oder schändlich war, das ist ein oft bemühter Topos öffentlicher Verlautbarungen. Dabei wird der Ausdruck Erinnerung eingesetzt, als sei evident, was man darunter verstehen könnte. Wenig wird darauf geachtet, dass Erinnern und Vergessen ein begriffliches Schema darstellen, eine einzige Unterscheidung, deren Seiten sich wechselseitig definieren. Erinnern ist immer an Vergessen, Vergessen immer an Erinnern geknüpft.

Nur was vergessen wird, kann erinnert werden; nur was erinnert wurde, kann als zuvor Vergessenes aufgefasst werden. Und jedes Erinnern ist Auswahl aus dem Meer dessen, was durch ebendiese Auswahl vergessen wurde, ist also zugleich das Verdecken dessen, was durch die Wahl dieser oder jener Erinnerung genau nicht erinnert wird.

Die Frage nach den Bewandtnissen kollektiver Erinnerung ist demnach identisch mit der Frage nach dem kollektiven Vergessen, und sie impliziert, ob man will oder nicht, das Problem, wie man sich das Gedächtnis (irgendein Gedächtnis, sei es psychisch, sei es sozial) vorstellen kann, das beide Leistungen kombiniert.

Sehr vieles bündelnd, könnte man sagen, dass allem philosophischen und alltäglichem Herkommen nach das Gedächtnis typischerweise als eine Art Speichereinrichtung begriffen wird. Vom antiken Wachstafelmodell hin bis zum Freud’schen Wunderblock kommt niemand umhin, das Gedächtnis als Kompendium aufrufbarer Spuren zu verstehen, das bei Bedarf aktiviert werden kann.

In Computerzeiten werden diese Metaphern mit weiterer, geradezu technischer Evidenz aufgeladen: Wir speichern, wir rufen Gespeichertes auf, wir löschen Gespeichertes, und mitunter sind wir damit beschäftigt, Gespeichertes, das versehentlich gelöscht wurde, irgendwie doch wieder zu holen – in der Hoffnung, dass keine unwiderruflichen Verluste aufgetreten sind, die unseren präsenten Zugriff auf die speichertechnisch kondensierten Vergangenheiten im Wege stünden.

Wir stehen sozusagen täglich (und für unsere Kinder gilt das noch mehr) im Phantasma einer sehr alten Gedächtnistheorie, die ein Ablegen und Wiederfinden des einst Abgelegten für möglich hält, obwohl wir stets in der Gegenwart operieren und weder Kontakt zur Vergangenheit noch zur Zukunft halten können.

Abgesehen von erheblichen Theorieschwierigkeiten, die dieses Modell bereitet und die ich hier nicht nachzeichnen kann, ist verblüffend, dass wir das, was in der Metapher als abgelegt, gespeichert, zur Wiederverwendung aufbewahrt behandelt wird, tatsächlich selten in Anspruch nehmen. Ich muss mich nicht daran erinnern, wie man eine Tür öffnet, und wenn ich jemanden grüße, muss ich in den seltensten Fällen in meinem Gedächtnis danach suchen, wie man das macht.

Die Wörter, die ich benutze (wie gerade jetzt), kommen daher, ohne dass ich überlegen müsste, wann und wie ich sie gelernt habe. Wer flirten will, tut es – ohne sich der Muster bewusst werden zu müssen, die er dabei realisiert, und wenn er doch überlegen muss, was er gelernt hat, als er lernte zu flirten, dürfte die Gelegenheit, um die es ging, schon Vergangenheit sein. Wer beim Tanzen Schrittfolgen aus seinem Gedächtnis holen muss, wird vermutlich als schlechter Tänzer gelten, und der Klavierspieler, der sein Gedächtnis einsetzen muss, um herauszufinden, wo auf seiner Klaviatur ein Des oder Fis angeschlagen werden kann, wird kaum als Virtuose einigen Bekanntheitsgrad erwerben. Das kann man darauf hin zuspitzen, dass offenbar voraussetzungsvolle Leistungen wie Sprechen, Lesen, Musizieren, sich an Interaktionen beteiligen, Geld überweisen etc. gedächtnisfrei funktionieren. Eigentlich benötigen wir (das Speichermodell vorausgesetzt) nur in Ausnahmefällen die Leistung, die wir dem Ausdruck Gedächtnis zuschreiben.

Dieser seltsame Befund legt es nahe, neu darüber nachzudenken, was denn eigentlich die Funktion des Gedächtnisses sei, wenn es alltäglich selten benutzt wird. Und das Ergebnis dieses Nachdenkens führt dahin, das ältere Speichermodell auf den Kopf zu stellen (oder auf die Füße, ganz nach Gusto) und mit Niklas Luhmann die These zu vertreten, die wesentliche Funktion des Gedächtnisses bestünde im Vergessen. Gedächtnis leistet, was es leistet, dadurch, dass es laufend ermöglicht zu vergessen, oder anders herum: dadurch, dass es weitgehend verhindert, dass man sich erinnern muss.

Das Vergessen ist dabei nicht einfach nur die mangelnde Notwendigkeit, sich an problemlos Beherrschtes zusätzlich erinnern zu müssen, sondern es wäre (positiv ausgedrückt) die Erwirtschaftung von Schemata, die das Sich-erinnern-Müssen laufend unterdrücken.

Das Schema des Flirtens wird, wenn man so will, einfach ausagiert, es ist zuhanden. Ich klopfe an eine Tür, und in den allermeisten Fällen wird ein „Herein!“ das Schema komplettieren. Wir operieren, heißt das, unentwegt auf einer hoch komplexen Schemawelt, die problemfreie Orientierung ermöglicht und nur in Sonderfällen der Reflexion bedarf. Man könnte fast sagen, dass Schemagebrauch (der das Vergessen ist) die Ontologie der Dinge und Lagen erzeugt, in denen wir eingerichtet sind.

Erinnern als Gegenseite der Unterscheidung Vergessen/Erinnern wäre vor diesem Hintergrund die Möglichkeit, in Krisenlagen, die das problemlose Vergessenkönnen betreffen, zu prüfen, ob die Welt, in der man lebt, ob das Bewusstsein, das diese Welt beobachtet und dabei inszeniert, noch konsistent ist.

Erinnern ist demnach Konsistenzprüfung. Man flirtet, und derjenige/diejenige, die angeflirtet wurde, kommt an den Tisch, an dem man sitzt, und fragt: „Was wollen Sie eigentlich? Warum starren Sie mich so an?“ Und erst dann ist der Anlass gegeben nachzuprüfen, ob man mit der Erwartung, dass Flirten die Kunst unverbindlicher (jederzeit bestreitbarer) Kontaktaufnahmen auf der Basis erotischer Interessen ist, richtig lag oder nicht.

Gegebenenfalls müssen dann die Erwartungen revidiert, muss also gelernt werden, um in weiteren Fällen von einem erweiterten Schema des Flirts Gebrauch machen zu können. Aber auch dabei muss man sich, beiläufig gesagt, keineswegs daran erinnern, wie man sich erinnert. Auch diese Funktion scheint schematisch zu funktionieren.

Nimmt man dies als theoretische Voraussetzung, um über kollektive Erinnerung zu sprechen, zeichnet sich ein ungewöhnliches Bild ab. Betrachtet man zunächst den Oberbegriff des kollektiven Gedächtnisses (davon absehend, dass im Wort kollektiv geradezu maßlose Unschärfen mitgeführt werden), dann wäre damit die schematische Orientierungsleistung sozialer Systeme gemeint, also genau die Strukturen und Prozesse, die laufend reflexionsfrei und unirritiert in Anspruch genommen werden.

Die Vergangenheit wäre repräsentiert durch die Nutzung tradierter Muster oder Schemata, die ihrerseits auf tradierten Mustern beruhen. Dabei gibt es, wenn zum Beispiel neue Medien beginnen, eine Rolle zu spielen, Variationen alter Muster, die sich etwa studieren ließen daran, wie die Form des Briefes in der E-Mail zugleich festgehalten und verändert wird, oder daran, dass die Fahrgäste in Wiener Taxis noch immer im Fond sitzen (also im Modell der Kutsche platziert werden), obwohl sie nicht mehr in jedem Fall hochherrschaftlicher Abkunft sind, oder daran, dass die Kotflügel noch immer Kotflügel heißen. Die Etikette lebt in der Netikette des WWW weiter, ebenso wie das Schema der Geselligkeit im Chatroom modifiziert und zugleich gepflegt wird und im Übrigen zurückkopiert werden kann in die Bizarrerie von so genannten Lifechats.

Dasselbe gilt für Gedenkfeiern, für die Anwendung von Pathosformeln (unter die ja auch das Heraufbeschwören kollektiver Erinnerung an Scham und Schande fällt), für feierliche Inszenierungen der Gemeinsamkeit-in-der-Erinnerung, nämlich dass sie schematisch ablaufen. Gedenkminuten sind, genau besehen, Wegdenkminuten, wenn sie verordnet werden.

Erinnerung wäre im Gegenzug (ob man sie nun mit dem Unschärfeadjektiv kollektiv versieht oder nicht) genau das, was in Krisenlagen des Vergessens aktualisiert wird, eben eine Prüfung der Konsistenz von Erwartungen. Sie mag ihrerseits schematisch sein (also auf sozial eingeübte Formen des Erinnerns zugreifen), oder sie kann versuchen, gepflegte Schematisierungen aufzubrechen und die teilweise widerwärtige öffentliche Routine des Erinnerns einer Subversion zu unterziehen.

Dabei käme es dann darauf an, zutiefst Vergessenes (also hoch Schematisiertes) als Problem, als Störung zu behandeln. Vielleicht darf man formulieren, dass das, was man kollektive Erinnerung nennt, nichts bewirkt, wenn sie schematisch exerziert wird, dass es aber sehr wohl folgenreich sein könnte, so etwas wie subversive Erinnerung, so etwas wie inkongruente Erinnerung zu akzeptieren, für die erst sozial anschlussfähige (beispielsweise künstlerische) Formen entwickelt werden müssten.

Inkongruente Erinnerung – man könnte sie auch eine Erinnerung zweiter Ordnung nennen, die sich darauf konzentriert, zu beobachten, in welchen Schemata erinnert wird, um zu vergessen. Ich erinnere daran: Erinnern und Vergessen sind die Seiten einer Unterscheidung. Wenn man die Unterscheidung in Aktion versetzt, wäre es wichtig, daran zu erinnern, gerade dies nicht zu vergessen.