Der Gast aus Peking

Heute beginnt der Besuch des Präsidenten der menschenreichsten Nation dieser Erde: Jiang Zemin kommt nach Berlin. Eine lange Geschichte, denn schon in den 20er Jahren reisten chinesische Kommunisten an die Spree

von THOMAS KAMPEN

Obwohl Jiang Zemin heute zum ersten Mal als Staatsoberhaupt nach Berlin kommt, findet sein Besuch der deutschen Hauptstadt offiziell fast gar nicht statt. „Sicherheitsstufe eins“ hat die Bundesregierung verhängt. Zu häufig schon verhagelten aufgebrachte Menschrechtsdemonstranten die Schönwetterprogramme der chinesischen Machthaber. So brach der vormalige Ministerpräsident Li Peng, der für die Schießereien auf dem Tiananmen-Platz 1989 verantwortlich gemacht wurde, seinen Berlin-Besuch vor rund zehn Jahren abrupt ab. Vor dem Brandenburger Tor skandierten wütende Demonstranten „Li Pengpeng“. Soviel Meinungsfreiheit galt den Chinesen als beleidigend. Nun also größtmögliche Geheimhaltung. Einziger Berlin-Programmpunkt für Jiang: ein Eintrag in das Goldene Buch der Stadt beim Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit im Roten Rathaus. Die Spreestadt kann damit leben, denn Jiang, Chef der größten Kommunistischen Partei der Welt (65 Millionen Mitglieder), der als dritter großer Steuermann nach Mao Zedong und Deng Xiaoping in die Annalen eingehen will, schließt demokratische Refomen rigoros aus. Ein symbolischer Gang durchs Brandenburger Tor ist daher gar nicht erst vorgesehen. Die chinesischen Kommunisten der ersten Stunde meinten allerdings noch, in Europa Lehrmeister ihrer politischen Aktivitäten zu finden. Bei Spaziergängen entlang dem Quai der Seine oder im Berliner Tiergarten diskutierten sie die Schriften von Marx und Engels und planten die Revolution. Genau 80 Jahre ist es her, dass der Grandseigneur der chinesischen Kommunisten, der spätere Ministerpräsident Zhou Enlai, Berlin besuchte.

Umsteigebahnhof Berlin

Dabei liegt die deutsche Hauptstadt aus chinesischer Perspektive nicht gerade im Zentrum des Geschehens. „Bolin“, wie die Chinesen Berlin nennen, bedeutet „Zypressenwald“ und lässt eher an Rom denken. Doch Berlin war flott und galt in den 20er-Jahren bald als Durchgangsstation für politische Aktivisten. Kurz nach der Gründung der Kommunistischen Internationale, der Kommunistischen Partei Deutschlands, 1919, und der KP Chinas, 1921, kamen zahlreiche westliche und auch fernöstlicher Revolutionäre an die Spree. Viele Chinesen lebten damals in Frankreich, wollten eigentlich nach Moskau und stiegen daher in Berlin um oder aus. Neben den günstigen Studienbedingungen liebten die chinesischen Bürgerssöhne und -töchter die Berliner Wohnungen. Der Trotzkist Zheng Chaolin, der 1923 von Paris nach Moskau siedelte und zwischenzeitlich in der Charlottenburger Kantstraße zur Untermiete wohnte, notierte in seinen Memoiren „Siebzig Jahre Rebell“: „In Frankreich habe ich nie in einer so schönen Wohnung gewohnt; aber nicht nur ich, sondern alle Studenten haben niemals in Frankreich in einer so hübschen Wohnung gewohnt. Die Vermieterin war eine Offizierswitwe; … um ihr Einkommen aufzubessern, vermietete sie die besten Zimmer an Ausländer.“

Zu den prominentesten chinesischen Berlinbesuchern gehörten der spätere Ministerpräsident Zhou Enlai und der langjährige Armeeführer Zhu De. 1922, vor genau 80 Jahren, wurde in Paris die erste europäische Organisation der chinesischen Kommunisten gegründet. Im selben Jahr reiste Zhou Enlai mit einigen Kommilitonen nach Berlin. Zhou, der zuvor Japan, England und Frankreich besucht hatte, ließ sich in Wilmersdorf nieder. Dort organiserte er eine Parteizelle, gab eine revolutionäre Zeitschrift heraus und spazierte um die zahlreichen Berliner Seen. 1923 kam auch der spätere Rote-Armee-General Zhu De. Auf Vermittlung Zhous trat er hier der KP bei. Zwei Jahre später, 1925, geriet Zhu De mit den Berliner Behörden in Konflikt: Weil er an einer Demonstration teilgenommen hatte, wurde er ausgewiesen und ging nach Moskau. Zhou Enlai hatte Berlin bereits 1924 verlassen.

Langer Marsch nach Pankow und Treptow

Nur ein Jahrzehnt später folgten beide Mao Zedong auf seinem Langen Marsch zur Befreiung Chinas. Als hohe Staatsmänner empfing Berlin sie noch einmal, diesmal mit allen protokollarischen Ehren: 1954 besuchte Zhou Enlai die Hauptstadt der DDR. Armeeführer Zhu De kam 1956 zum 80. Geburtstag des Genossen Wilhelm Pieck. Auf dem Programm stand jeweils ein Besuch in Pankow und Treptow. Ein Abstecher nach Charlottenburg und Wilmersdorf jedoch galt als politisch nicht opportun. Der Kampf der Systeme kannte eben keine Nostalgie.

Während die chinesische Revolutionsbewegung Mitte der 20er-Jahre ihren Höhepunkt erreichte, begannen sich auch die deutschen Kommunisten und Aktivisten der Internationalen Arbeiterhilfe, IAH, für das ferne China zu interessieren. Einer nahm sich der Sache besonders an, es war der Berliner Großverleger Willi Münzenberg. Als KPD-Funktionär und IAH-Chef organisierte er im August 1925 unter dem Motto „Hände weg von China“ einen viel beachteten Kongress. Mit Aufrufen wie „Helft den hungernden und streikenden Arbeitern Chinas“ sammelte Münzenberg rund 250.000 Dollar für die fernöstlichen Genossen. Münzenberg, der lange als der erfolgreichste kommunistische Unternehmer überhaupt galt, verbreitete mit seinem Verlagskonzern Publikationen mit aufrüttelnden Titeln wie „Die kapitalistische Hölle in China“ und „Das kämpfende China“. In seinen auflagenstarken Zeitschriften und Gazetten, darunter die Arbeiter Illustrierte Zeitung, Berlin am Morgen und Welt am Abend sorgte der linke Zeitungs-Tycoon dafür, dass die Berliner durch eine regelmäßige Berichterstattung über die politischen Kämpfe in China gut informiert waren.

Zu dieser Zeit hielten sich schon Dutzende von chinesischen Kommunisten in Deutschland auf und arbeiteten eng mit der IAH und KPD zusammen. Münzenberg selbst war mit „dem jungen und eifrigen Liau“, befreundet. Gemeint war Liau Hansin, ein Bekannter Mao Zedongs. Er war bereits 1922 der KP Chinas beigetreten, im gleichen Jahr nach Berlin gereist und arbeitete hier für die KP und die Komintern indem er für verschiedene Zeitschriften und die „Internationale Pressekorrespondenz“ schrieb.

Münzenbergs und Liaus Engagement trug bald Früchte. Vor 75 Jahren, im Februar 1927 organisierten sie den „Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus“, bei dem die chinesische Revolution das wichtigste Thema war. Hauptergebnis der Veranstaltung war die Gründung einer frühen Nichtregierungsorganisation, der „Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit“ mit Sitz in Berlin. Ein Konferenzteilnehmer war der ebenfalls in Berlin lebende Xie Weijin. Er war bekannt mit dem späteren DDR-Überkommunisten und KPD-Führer Ernst Thälmann und übernahm später, nach Liaus Abreise nach Moskau, einige vom Liaus Aufgaben. Xie war auch mit dem „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch befreundet und soll 1932 dessen Reise nach China organisiert haben. Im Januar 1933 erschien dann Kischs berühmtes Buch „China geheim“, welches Münzenberg verlegte, das aber bald verboten wurde. Xie Weijin blieb bis 1933 in Deutschland, floh dann in die Schweiz und nahm ab 1936 am Spanischen Bürgerkrieg teil.

Präsidentenwitwe im Wilmersdorfer Exil

Prominenteste Berlinbesucherin aus dem Reich der Mitte war Ende der 20er-Jahre Song Qingling. Sie war die Witwe des 1925 verstorbenen Revolutionärs und Republikgründers Sun Yatsen, der 1911 maßgeblich am Sturz des chinesischen Kaiserreichs beteiligt gewesen war. Nach der Niederschlagung der chinesischen Revolutionsbewegung im Sommer 1927 floh Song zunächst nach Moskau und dann nach Berlin. Hier wohnte die Präsidentenwitwe in der Lietzenburger Straße in Wilmersdorf. Natürlich war sie mit Münzenberg und anderen deutschen Kommunisten befreundet. In Berlin blieb sie bis 1932. Ihre Freundin und zeitweilige Sekretärin war die Kommunistin Hu Lanqi. Hu lernte durch ihre hiesigen Aktivitäten bald auch Clara Zetkin und Anna Seghers kennen, mit der sie gemeinsam einige Erzählungen verfasste. 1933 verhafteten die Nazis Hu Lanqi und verwiesen sie des Reiches. Ihre Erfahrungen verarbeitete sie bereits in den Dreißigerjahren in einem Buch über ihren Gefängnisaufenthalt. In den Achtzigerjahren folgten ihre Memoiren, in denen sie ausführlich über ihren Berlin-Aufenthalt berichtet.

Anfang der Dreißigerjahre lernte Hu Lanqi in Berlin noch den Studenten Wang Bingnan kennen. Wang blieb sogar bis 1936 in Deutschland, wo er Anneliese Martens heiratete, die spätere Anna Wang und Autorin des Buches „Ich kämpfte für Mao“. Wang Bingnan wurde Diplomat und diente in den Fünfzigerjahren als Botschafter der Volksrepublik China in Polen.

Der letzte prominente Berlin-Besucher dieser Epoche war der spätere Außenminister der VR China, Qiao Guanhua, der 1935 an die Spree kam. Obwohl er schon damals Kommunist war, akzeptierte er ein Stipendium Nazideutschlands. Er hielt sich allerdings nur kurz in Berlin auf und zog sich dann in die beschauliche Unistadt Tübingen zurück, wo er zwei Jahre später promovierte und kurz darauf nach China zurückkehrte. Mit Qiaos Abreise schließt sich das Kapitel der Untergrundtätigkeit chinesischer Kommunisten in Deutschland. Heute leben in Berlin mehrere tausend chinesische StudentInnen, Wissenschaftler und Ingenieure mit ihren Familien. Viele von ihnen würden wohl gerne gegen die Politik eines Jiang Zemin demonstrieren – wenn sie denn wüssten, wo.