Ein Café im Tal des Todes

Der kalifornische Buddha: John Thomas schrieb Gedichte und hütete einen Schatz – in den 60ern nahm er jedes Gespräch auf Tonband auf. Nun ist Charles Bukowskis Mentor 71-jährig gestorben

von FALKO HENNIG

„John nahm alles auf, wir hörten es uns am nächsten Tag an, und das war für mich eine nützliche Angelegenheit. Mir wurde klar, wie dumm und übertrieben und daneben ich oft war, jedenfalls angetütert. Und manchmal auch nüchtern.“

Charles Bukowski, „Burning in Water, Drowning in Flame“

Ist es nur ein subjektiver Eindruck oder wird in diesen Tagen wirklich auffällig viel gestorben? Die nette Stipendiatin vom Schloss Solitude Beatrix Haustein, Queen Mum, Billy Wilder, Oskar Sala und nun das. Solche Nachrichten kommen inzwischen ja per E-Mail. Philomene Long, die Dichterin und Königin der Boheme von Venice, Kalifornien, schreibt:

„Letzte Woche erzählte mir mein Mann John, dass es einen Himmel gibt, der neben uns existiert und in Wechselwirkung steht, dass wir auf viele merkwürdige Arten in ihn hineintreten können: durch Tauben, Samen, das endgültige Händeklatschen, durch zurückgelassenen Müll, durch ein verlassenes Café im Tal des Todes. Zu unserem Jahrestag wollte er ein Gedicht daraus machen, stattdessen trat er hinein am Karfreitag, als er an einem Herzinfarkt starb.“

John Thomas war 71, erstmalig las ich über ihn in einem Gedicht von Charles Bukowski Anfang der 90er-Jahre. Im Rahmen eines Symposions zu Bukowskis 80. Geburtstag konnte ich ihn dann selber sehen, eine beeindruckende Figur mit tiefer Stimme und grauem Bart. Ein größerer Unterschied als zwischen ihm und seiner Frau Philomene Long war kaum vorstellbar. Er, ein zwei Meter großer Buddha, sie, eine zierliche Dame in Schwarz. Und doch waren sie zusammen eine Einheit, sie arbeiteten in ihrer winzigen Klause in Venice mit Blick auf den Stillen Ozean und die Strandpromenade.

Die kleine mit Bücherstapeln, Manuskripten, Regalen und Zen-Utensilien voll gestopfte Wohnung beherbergt außerdem einen literaturgeschichtlichen Schatz, der nur noch gehoben und auf CDs in die Welt gebracht werden muss, einen Schatz, der aus alten Tonbändern besteht. In den 60er-Jahren hat John Thomas wenig geschrieben, damals glaubte er an eine neue Methode, an das gesprochene Wort, und nahm tagelang jedes Gespräch in seiner Wohnung auf. Nur gelegentlich machte er Gedichte daraus, inspiriert von der Cut-up-Methode.

Ob diese Bänder heute noch von größerem Interesse wären, wenn nur die, ähnlich John Thomas selbst, wenig berühmten Dichterkollegen darauf zu hören wären? Immerhin: Einem Freund von ihm, obwohl zehn Jahre älter, damals ein noch unbekannterer Dichter, ein Postsortierer, der sich über klassische Komponisten genauso ausließ wie über die Länge seines Zeugungsorgans, gelang es, prominent zu werden. Charles Bukowski war es, der mit seiner Figur des Hank Chinaski sein eigenes Postbotenleben in die Literatur einführte.

Und ich lernte John Thomas zuhörend verstehen, wie er zu einem Freund, zu einem bewunderten Vorbild für Bukowski werden konnte. Bukowski hat das in mehreren Gedichten beschrieben: „Er war mein Buddha, mein Guru, mein Held, Donner und Blitz.“ John Thomas gab ihm einen Ort, hinzukommen, als es keinen Ort sonst für ihn gab.

„Er wollte immer Platten von July Garland hören, und er weinte dann bei dieser Musik“, erinnerte sich Thomas. „Damals war sie hauptsächlich eine Sängerin für Schwule, aber Hank liebte sie. Er war auch sentimental in Bezug auf seine Pünktlichkeit und Zuverlässigkleit, er glaubte an Ehre. Für ihn waren das preußische Werte, er hielt sich für einen Preußen, aber er war es natürlich nicht, er war aus dem Rheinland, weit weg von Preußen.“

Auch in die Geheimnisse gewisser Modedrogen führte Thomas Bukowski ein. Der wollte nämlich LSD ausprobieren. Doch Thomas gab ihm lieber erst DMT, ein Alkaloid von Yage, deren Kristalle man aus kleinen Opiumpfeifen inhaliert. „Es haut dich aus den Schuhen!“ Doch Bukowski rauchte sechs Pfeifen ohne jede Wirkung. Erst dann gab Thomas ihm LSD. Bukowski wurde kalt, zusammengekauert saß er da und sagte: „Oh, mein Magen! Ein Mann, der seinen Magen beherrscht, kann die Welt beherrschen!“ Es war also kein schöner Trip, sein Magen schien Bukowski wie ein Alien.

Genauso gern hörte ich Thomas erzählen, wenn er über seine Bekehrung zum Buddhismus in Texas sprach, in den so fernen 50er-Jahren, oder wenn er Anekdoten aus seiner Zeit als Lehrer im Gefängnis erzählte, er zeigte ein Foto mit seinen lifies, seinen lebenslänglich Gefangenen, die ihn zum Geburtstag mit einer Feier überraschten.

Über seine Liebe, die Dichterin Philomene Long, sagte er kürzlich: „Wenn ich sterbe, berührt es sie nicht. Wenn du stirbst, kann es sie nicht berühren. Wenn wir beide sterben, berührt es sie nicht. Nichts kann ihr etwas anhaben.“ Hoffen wir, dass es so ist.