Alles Enthemmer?

Schriften zu Zeitschriften: Das Aprilheft des „Merkur“ analysiert nicht nur den Hass des Orients auf den Okzident und seine Dekadenz. Mit dem Psychiater Carl Nedelmann plädiert es gar für Letztere, für die Freigabe von Haschisch. Doch hier sollten sich Ost und West treffen können

„Ich war verurteilt zum Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig.“ (Friedrich Nietzsche, „Ecce Homo“, 1884)

„Du gehst kaputt – und der Dealer macht Kasse!“, so lautete dagegen die erste Antidrogenkampagne der Bundesregierung in den Siebzigern. Heute ist es genau umgekehrt: Das Haschisch ist – da nachgewiesenermaßen nicht süchtig machend – für den Endverbraucher freigegeben, aber damit zu dealen wird immer gefährlicher! Selbst der gänzlich rauschmittelfreie Hanf ist im Anbau und Vertrieb nicht risikolos. So wurde unlängst das von Mathias Broeckers von seinem Honorar des Bestsellers „Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf“ gegründete Franchising-Unternehmen „Hanfhaus“ liquidiert. Am „Point of Return“ war es wegen des Verkaufs eines hanfsamenhaltigen Vogelfutters zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt worden (die Berufungsverhandlung steht noch aus). Auch in Griechenland waren zwölf Hanfläden aus demselben Grund geschlossen worden. Hier intervenierte zwar die EU, aber dies bewirkte nur eine – Erfolg versprechende – Schadensersatzklage.

Der Psychiater Carl Nedelmann hat erst im Deutschen Ärzteblatt und jetzt im Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, den Stand der Auseinandersetzung um die Rauschpflanze Cannabis zusammengefasst. Er plädiert darin für die Freigabe dieser weichen Droge. Nicht zuletzt weil die Diskussion der letzten Jahre zwischen Gegnern, Befürwortern und Gutachtern sich immer weiter von der Realität entfernt hat. Gemeint ist damit die zunehmend armseligere Rechtfertigung der staatlichen Repression.

Diese begann in den Dreißigerjahren in den USA mit dem „Drogenkrieg“, in dem das Cannabis als „Mörderkraut“ figurierte. Jetzt gilt es nur noch als eine „Einstiegsdroge“, die bestenfalls „motivationshemmend“ wirkt. Nedelmann nennt das eine groteske „Verkehrung von Ursache und Wirkung (…). Dem Stoff wurde zugeschrieben, was der Gesetzgeber angerichtet hatte.“ Dazu wird der Strafrechtsforscher Hans-Ullrich Paeffgen zitiert, der die absurde Konstruktion – den Konsum, nicht aber den Besitz von Drogen, unter Straffreiheit zu stellen – „einen Mühlstein am Hals“ der scheinbaren Achtung des Gesetzgebers „vor der Individualautonomie“ nennt, welcher „allenfalls durch geflissentliche Nichtbeachtung des Gesetzes normativ erträglich wird“. Man geht inzwischen davon aus, dass genau das auch bezweckt war – nämlich die Betroffenen damit „unter der Fuchtel“ zu halten. Und weil das staats- und verfassungsrechtlich bedenklich, wenn nicht gar verwerflich ist, deswegen sind Paeffgen und Nedelmann eher für die bedingungslose Freigabe.

Ob wir unseren Stoff dann über den „Philip-Morris-Hanfkatalog“ bestellen oder uns, wie es Hessen 1992 forderte, am Schalter des „staatlichen Abgabemonopolbetriebs“ anstellen müssen, ist damit noch nicht gesagt. Zunächst einmal sieht es so aus, dass es einen – von Schweizer und holländischen Anbauern und Dealern ausgehenden – starken Exportdruck gibt. Wobei es nicht wünschenswert ist, wenn das überzüchtete „Gras“ aus Holland, analog zum Gemüse, den deutschen Markt beherrscht.

Noch sorgt die Illegalität mit ihrer gehörigen Risikospanne für ein breites Angebot. Und ein gewisser Preisdruck kommt dabei von den hiesigen kleinen Selbstanbauern. Gleichzeitig fand eine Konsumkultivierung statt, seitdem das Haschischrauchen aus der Mode geriet – und immer mehr Leute Partydrogen bis hin zu Kokain nehmen. Was hat es aber nun mit der These „Dem Stoff wurde zugeschrieben, was der Gesetzgeber angerichtet hatte“ auf sich?

Der Gedanke, dass sich alle durchs Kiffen gekommenen Ideen und Vorstellungen primär der Illegalität verdanken, hat etwas schwer Erträgliches, sollte aber der fortgesetzten Sozialkritik zuliebe ausgehalten werden. Wie ja auch viele Existenzgründungen und Sinnfindungen zwischen Marokko und Kasachstan bloß dieser Kapitalferne – infolge andauernder Staatsverfolgung– zu verdanken sind. Selbst die Berliner „Hanfparade“ ist ohne die „Fuchtel“ des Gesetzes nicht zu haben. HELMUT HÖGE

Merkur, 4/56, April 2002, 10 €