Die Stadt ohne Eigenschaften

Thomas Schadt hat Walter Ruttmans Klassiker „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ neu interpretiert. Leider kommt seine Dokumentation über die flotte Reihung teils altbekannter Bilder nicht hinaus

Auf dem Papier sieht es nach einem kunstbeflissenen Hochschulprojekt aus: die Idee, einen Dokumentarfilm nachzudrehen, noch dazu einen Stummfilmklassiker der 20er-Jahre. Was aber, so der zweite Blick, ließe sich nicht alles zutage fördern beim Versuch, alte, historisch gewordene Kameraeinstellungen und Motive wiederherzustellen?

Mit seiner Ankündigung, Walter Ruttmanns Film „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ neu zu verfilmen, konnte der Dokumentarfilmer Thomas Schadt durchaus Hoffnungen wecken. Ruttmann hatte Berlin 1927 zum Sujet einer Studie über Rhythmus, Bewegung und Geschwindigkeit erhoben. Unter Ruttmanns kalten, formalistischen Schnitten gediehen die hart ratternden Sequenzen des Großstadtlebens zum modernen Epos.

Nun hat Schadt stets eingelenkt, es ließe sich ein Film der Zwanzigerjahre nicht wiederholen, man könne die Schnitt- und Montagetechniken der Pionierzeit nicht reproduzieren, als habe es 75 Jahre Filmgeschichte nicht gegeben, und man könne deshalb nicht von einem Remake, sondern bestenfalls von einer Neuinterpretation sprechen. Aber sofern der Verweis auf Ruttmann das Interesse an einem 2001 gedrehten Dokumentarfilm, ohne Ton und in Schwarzweiß, überhaupt erst weckt und sofern dieser Verweis den Regisseur gewissermaßen als formalistische Läuterung von dem Verdacht falscher Nostalgie befreit, muss er sich an seinem Vorbild messen lassen.

Ruttmann folgte, wo er mit Motiven und Themen, Metren und Tempi arbeitete, einer zutiefst musikalischen Logik. Schadt begegnet diesem Anspruch, indem er das Komponistenpaar Helmut Oehring und Iris ter Schiphorst für eine Filmmusik engagierte, die zeitgleich zu und in Anlehnung an die Bilder entstanden ist. Die beiden haben sich mit wilder, fast gewalttätiger Musik als sympathische Außenseiter der zeitgenössischen Klassik etabliert. Sie beherrschen ihr Handwerk und komponieren, was wichtiger ist, vor einem ästhetisch geweiteten Horizont. Aber es scheint den beiden, das konnte diese Filmmusik leider nur bestätigen, so recht nichts mehr einzufallen.

Immerhin beweisen die beiden Komponisten Humor: Der Einzug eines harmlosen Roggenbrötchens, das per Fließband von links ins Bild rollt, wird von pompösen, schwer schreitenden Paukenschlägen begleitet, die Chiffre des musikalisch Erhabenen kippt entlarvt und ausgehöhlt ins Lächerliche. Ansonsten plätschert das Riesenorchester, das sich gewichtig vor der Leinwand aufgebaut hat, gemächlich von einer Plattitüde in die nächste: Wie genau geht noch mal Filmmusik? Mit einem langen, hohen Streicherton lassen sich lange, entlegene Bildsequenzen atmosphärisch zur Einheit verbinden? Fetzige Gitarren und ein tumbes Schülerschlagzeug verleihen den Szenen Energie? Elegische Motivketten romantischer Provenienz suggerieren gewichtige Bedeutung und emotionale Tiefe? Na fein, werden sie sich gedacht haben, das machen wir, und zwar fünfundsiebzig Minuten lang. Die Bilder setzen sich allerdings über die aufdringliche sinfonische Langeweile hinweg. In seiner geflochtenen thematischen Arbeit kommt der Film zu seinem eigenen Rhythmus, wird er, wie das Original, selbst Musik.

Schadt folgt dem Original nicht nur, indem er einen Tagesablauf stilisiert, die Stadt erwachen, sie mittags ruhen und rasten lässt, sie spät abends als vergnügtes Babylon ablichtet. Parallelen bestehen durchaus auch in der Verdoppelung einzelner Motive: die ständigen Lichtreflexe, die Ästhetisierung der Arbeit und der Vermassung, das rege Nacht- und Straßenleben, die allegorischen Tieraufnahmen, die seltsame Menage aus Sport, Nachtschwärmerei und Konzert.

Mitunter wirkt das alles sehr dramatisch, etwa dort wo die Bilder historisieren und eine schwere Patina über der Stadt liegt. Aber meist ist der Regisseur doch mit sich selbst und seinem bestechenden Handwerk beschäftigt und wohl auch zufrieden. Hier zieht die Kamera doch ein wenig selbstverliebt über die Dächer, dort wird ein Thema eher pflichtbewusst durchdekliniert und der Vollständigkeit halber katalogisiert. Von den fotogenen Motiven, mit denen sich das deutsche Feuilleton in vergangenen Jahren schmückte, bleibt keines ausgespart. Außerdem werden abgearbeitet: Love Parade, Bundestag, Nazidemo. Und es werden die Orte auch immer recht hübsch ausbuchstabiert; immer fallen der U-Bahnhof oder ein Straßenschild ins Bild oder der Schatten des Fernsehturms, auf dem die Kamera steht und der sich auf den Dächern der Stadt abzeichnet.

Am Ende kommt Schadt über eine stumme Reihung von Bildern, die man allesamt hundertmal gesehen zu haben glaubt, einfach nicht hinaus. Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass man einen Klassiker nicht schaffen wollen kann. Dieser Film hatte ein Klassiker werden sollen und es konnte eben drum nicht gelingen. Denn anders als Ruttmann hatte Schadt kein echt filmisches, am Medium entzündetes Problem vor Augen. Indem Ruttmann Berlin als Chiffre des modernen Lebens inszenierte, hat er Berlin eine bleibende Identität einbrennen können. Eine Identität des neuen Berlins ist aber offenbar genau das, was man sich von diesem Film erhoffte. Schadt musste die Hoffnung wecken, Berlin mit seinem Film wieder eine Identität zu verleihen. Er hatte aber, anders als Ruttmann, keine zu vergeben.

BJÖRN GOTTSTEIN

„Berlin – Sinfonie einer Großstadt“. Regie: Thomas Schadt. D 2001, 77 Min.