Kinderbetreuung ist nicht alles

Was ist die Familie wert? (3): Eltern brauchen Zeit für die Arbeit und Zeit für ihre Kinder. Dies zu gewährleisten, ist eine zentrale Aufgabe von Unternehmen und Gewerkschaften

Fast alle Industriestaaten haben damit zu kämpfen, dass die Familien immer später gegründet werden

In der alten Bundesrepublik meinte man mit Familie fast durchweg: Vater, Mutter, Kinder. Und das war statistisch auch korrekt. Im Durchschnitt hatte sich von Ende der Fünfzigerjahre bis 1990 weder die Zahl der Familien (10,6 Mio.) noch der unterschiedlichen Familienformen wesentlich geändert. Deutlich zurückgegangen war lediglich die Zahl der 3-, 4- und Mehr-Kinder-Familien. Im Jahr der deutschen Vereinigung wurden „nur“ 1,5 Millionen Alleinerziehende gezählt.

Ein Jahr später sind daraus 2,1 Millionen geworden. Der plötzliche Anstieg 1991 kam zustande, da seit diesem Jahr auch die neuen Bundesländer mit einem hohen Anteil an Alleinerziehenden statistisch erfasst werden. Erst dadurch wurde ein Phänomen überdeutlich, das in den Jahren zuvor kaum eine Rolle gespielt hatte: Die familiären Lebensformen variieren nämlich nicht nur zwischen den neuen und den alten Bundesländern, sondern auch innerhalb der alten Bundesländer. In Städten wie Bremen, Hamburg und Berlin liegt der Anteil der Familien an allen Haushalten zwischen 17 und 20 Prozent, in den ländlichen Regionen in Niederbayern, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen hingegen bei über 60 Prozent. Die gleichen Variationen gibt es bei Familien mit zwei Eltern und einem Elternteil. Die Einelternfamilien leben häufiger in den großen norddeutschen Städten, so dass Bremen also Rostock ähnlicher ist als Regensburg. Daher kann die Familienpolitik nicht überall die gleichen Lebensbedingungen und familiären Lebensformen unterstellen. Wenn auch die überwältigende Mehrheit aller Kinder (zwischen 75 und 80 Prozent) mit zwei Eltern aufwächst, gilt das eben nicht in allen Regionen in gleicher Weise.

Auf jeden Fall sind Familien mit Kindern auf zwei Einkommen angewiesen. Das ist kein spezifisch deutscher Trend, sondern gilt weltweit für hoch entwickelte Industrieländer von den USA bis Frankreich. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der zunehmenden Erwerbsquote gerade der 35- bis 45-jährigen verheirateten Frauen mit Kindern wider, die mittlerweile fast die Quote der Männer erreicht hat. Diese Entwicklung ist wesentlich durch den Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft seit Anfang der Siebzigerjahre zu erklären. Junge, qualifiziert ausgebildete Frauen übernahmen Positionen, die von den Männern nicht ausgefüllt werden konnten. Dieser Prozess wird weitergehen: Sowohl in den USA wie in Deutschland überflügeln die jungen Frauen dabei die gleichaltrigen Männer in den weiterführenden Bildungseinrichtungen (von 100 Gymnasiasten sind 54 Mädchen).

Zwei Einkommen bedeuten aber auch, dass beide Elternteile zusammen mehr Zeit am Arbeitsmarkt verbringen als im Modell des Familienernährers der Mann allein. Bei rund 70 gemeinsamen Arbeitsstunden am Arbeitsmarkt ist die Koordination von Arbeit, Familie und Freizeit ein ganz anderes Problem als früher bei 40 bis 45 Stunden eines der beiden Elternteile.

Es kommt hinzu: Nur noch 15 bis 20 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung haben feste Arbeitszeiten. Wissensbasierte Produkte lassen sich ebenso wenig in starren Arbeitszeiten entwickeln, wie ein Schuhladen oder ein Kurierdienst seine Leistungen nur von 8 bis 16 Uhr anbieten kann. Die Agrargesellschaft konnte die Arbeit nach den Jahreszeiten richten, die Industriegesellschaft organisierte den Zeitrhythmus in Abhängigkeit vom Produktionsprozess. Der gesamte Zeittakt der städtischen Lebens orientierte sich an dieser Struktur – auch die Kinderbetreuung. Diese Zeittaktung hat keine Zukunft mehr.

Aber auch die Lebensverläufe des Industriezeitalters verlieren zunehmend ihre Berechtigung. So kämpfen fast alle Industriestaaten mit dem Problem der wachsenden Ausbildungszeiten. Sie führen dazu, dass viele nicht vor dem 30. Lebensjahr ihre Berufstätigkeit aufnehmen können und sich entsprechend die Familiengründung verzögert. Das führt dazu, dass gut ausgebildete Frauen ihre ersten Kinder entweder erst mit Ende zwanzig bekommen oder kinderlos bleiben. Gerade in den letzten Jahren ist für jeden erkennbar geworden, dass die Ausbildungsdauer und die ersten Schritte in die ökonomische Selbstständigkeit zunehmend mit der Familiengründung kollidieren.

Zusammen mit zwei südeuropäischen Ländern mit ähnlichen Ausbildungssystemen bildet Deutschland das Schlusslicht in Europa und liegt weit hinter den USA mit einer Geburtenrate von inzwischen wieder 2,1 Kindern pro Frau – und das bei weitgehender Vollerwerbstätigkeit. Selbst die Collegeabsolventinnen liegen mit 1,9 Kindern weit vor Deutschland mit 1,3 bis 1,4 Kindern. Das amerikanische Bildungssystem ist ähnlich dem in England und Frankreich gestuft und ermöglicht nach jedem Abschnitt den Ausstieg und Berufsbeginn. Damit bietet es die Chance für frühe ökonomische Selbstständigkeit, aber auch für einen Wiedereinstieg in das Bildungssystem. Entsprechend niedriger ist das Erstgeburtsalter.

Betrachtet man die gegenwärtige Lage, so müssen vor allem drei familienpolitische Konsequenzen gezogen werden:

1. Ohne eine politische Akzeptanz der regionalen Unterschiede von Familienformen und Lebensbedingungen für Kinder werden die skizzierten Transformationsprozesse nicht bewältigt. Man braucht heute auch eine kommunale Familienpolitik.

Das Bedürfnis der Kinder nach festen und stabilen Beziehungen muss berücksichtigt werden

2. Die Ausweitung der Zeit, die Eltern am Arbeitsmarkt verbringen, macht eine Diskussion über eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Familienerziehung und öffentlicher Erziehung zwingend erforderlich. Hier ist es nicht damit getan, wie manche Ökonomen meinen, genügend Betreuungsplätze anzubieten, um den Erfordernissen des Arbeitsmarkt zu genügen. Vielmehr muss darüber hinaus diskutiert werden, wie Eltern und Betreuungseinrichtungen so miteinander zusammenarbeiten können, dass das Bedürfnis der Kinder nach festen und stabilen Beziehungen ebenso berücksichtigt werden kann wie ihr Bedürfnis, gemeinsam mit anderen Kindern die Welt zu entdecken.

3. Der Schlüssel für eine vernünftige Balance zwischen Zeit für Kinder, Zeit für berufliche Qualifikation und Zeit zur Arbeit liegt bei den Unternehmen und Gewerkschaften: Sie müssen endlich lernen (und inzwischen gibt es eine Menge guter Beispiele), dass die Zeit für Kinder in einer Gesellschaft genauso wichtig ist wie die Zeit für Arbeit. Das aber wird erst dann möglich sein, wenn für Männer die Zeit für Kinder genauso wichtig ist wie für Frauen.

HANS BERTRAM