Lektüren fürs Leben

Die wahren Perlen und Preziosen auf dem Literaturmarkt finden in den Feuilletons leider fast nie Beachtung: Ratgeber- und Lebenshilfebücher. Das ist ungerecht, denn sie zählen zu den Werken mit den höchsten Auflagen. Ob Feng-Shui, Bulimie, Erektion, Bausparvertrag oder Wie werde ich reich: Alle Probleme finden in ihnen statt – und ihre Lösungen gleich dazu. Zur verdienten Rehabilitation eines Genres

von MICHAEL RUTSCHKY

Wie man im KZ trotz allem eine elegante Abendeinladung gibt; wie man aus dem Flächenbombardement der Städte eine spirituelle Erfahrung gewinnt; mit welchen Kniffen, Tricks der Kriegsgefangene seine Flucht aus Sibirien organisiert – solche Ratgeber fehlen natürlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass Vergleichbares in der so genannten schlechten, das heißt der Nachkriegszeit existierte und die Runde gemacht hätte. Woher kannte Vater das Rezept für die Zucht und die Zubereitung von Pfeifentabak? (Eine fürchterlich stinkige Angelegenheit.) Es wurde wohl von Mund zu Mund weitergegeben.

Will sagen, der Ratgeber, der sich längst zu einem eigenen Buchgenre auswächst, setzt allemal gesellschaftlichen Reichtum voraus, materiellen ebenso wie kommunikativen. Fehlte in der schlechten Zeit das Kochbuch, wie man aus der Armut leckere Gerichte zaubert, so fehlt heute eigentlich bloß der Ratgeber, wie man erfolgreich Ratgeber für alle Fälle des Lebens schreibt, um damit viel Geld zu verdienen. (Ratgeber, wie man Krimis verfasst oder Filmdrehbücher, existieren längst.)

Aus der Kindheit, den Bücherschränken der Eltern und Verwandten, erinnere ich vor allem Kochbücher für den Durchschnittskonsum (der halt in der schlechten Zeit ausfiel). „Frikadellen (Resteverwertung). 400 g Fleischreste (gekocht oder gebraten), 1 alte Semmel (Brötchen), 1 kleine Zwiebel, 1 Ei; etwas Salz, etwas Pfeffer, 20 g Weizenmehl, 50 g Fett.“ Mutter pflegte sich über die Voraussetzung zu amüsieren, dass im Haushalt gekochte oder gebratene Fleischreste auf ihre Verwertung warten – selbstverständlich wurde 1949, auch 1953 jeder Braten restlos verzehrt.

Eine zweite Gattung Ratgeber – Mutter hatte es persönlich von ihrem Vater gelernt, wie man das macht –, die sich im Onkelbücherschrank fand, betraf das Fotografieren. Irgendwann in den Dreißigerjahren, so scheint es, versuchte es jeder mal damit. „Nachdem der Verschlussstreifen entfernt ist, wird der Film in die untere Mulde gelegt und dabei immer mit dem Daumen der linken Hand ein wenig niedergedrückt, damit sich das Schutzpapier nicht vorzeitig lockern kann.“ Tante, die über altes, das heißt seit langem in der Familie ansässiges Geld verfügte, besaß sogar eine echte Leica (was Mutters Neid erregte); freilich tauschte sie Tante bei der ersten Gelegenheit in eine der aufkommenden Automatikkameras ein, die wiederum das Genre des Ratgebers für Fotoamateure überflüssig machten.

Endlich fanden die Jungs nach längerem Graben im Bücherschrank – stets war dies Buch gut versteckt und musste hinterher auch unauffällig zurückgestellt werden – den Sexualratgeber, eine überaus heiße Sache, die Ausblicke in hochinteressante und vollkommen unbekannte Landschaften eröffnete: „Abgesehen noch von der schlüpfrig machenden und dadurch Schmerz – auch beim Manne – verhindernden Schleimproduktion der Vorhofdrüsen, erwirkt die sexuelle Erregung des Weibes durch die Füllung der Schwellkörper, durch die Anschwellung der Scheidenschleimhaut und die Zusammenziehung der Vaginalwände, schließlich auch durch das Tiefertreten des Uterus, eine gewisse elastische Verengung des Scheideneinganges und des ganzen Scheidenrohrs, wodurch ein innigeres Anliegen der weiblichen Teile an den Phallos, eine samtartige Umpolsterung des männlichen Organs gewährleistet und die günstigsten Vorbedingungen für die Steigerung der auf ihn ausgeübten Reize geschaffen werden.“ Wow! Da kamen, fanden die Jungs, höchst ansprechende Erlebnisse auf sie zu – leider enthielt der Ratgeber keinerlei Hinweis, wie man ihr Eintreten beschleunigen könnte …

Das Zitat stammt aus dem seit den Zwanzigern berühmtesten Sexualratgeber, „Die vollkommene Ehe“ von Theodor van de Velde, einem niederländischen Frauenarzt. An der zitierten Stelle rät er dem Manne dringend, sich angelegentlich um die sexuelle Erregung des Weibes zu bemühen, schon wegen seines eigenen Vergnügens, und damit macht van de Velde den Grundzug aller Ratgeber deutlich: Es handelt sich um Aufklärungsliteratur, die den in Vorurteil oder Schamgefühl oder Unkenntnis oder Ungeschick verhafteten Bürger lehrt, seine Geschlechtswerkzeuge oder seinen Fotoapparat oder seine Bratenreste vom Vortag besser zu gebrauchen.

Aufklärung ist bekanntlich ein unabschließbares Projekt, und so breitet sich nützliches Wissen gegenwärtig mit jeder Buchsaison weiter aus, bis in die fernsten Ecken. Du spürst unter deinen Füßen das Gras: Autogenes Training in Fantasie- und Märchenreisen. Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen: Bulimie – verstehen und heilen. Ich will alles: Glücklich mit Kind, Job und Partner. Wie man Schüchternheit in Stärke verwandelt: Der Weg zu einem neuen Selbstwertgefühl. Studienabbruch als Chance: Einstiegschancen und Berufsperspektiven. Das USA-Gastschülerbuch: Anleitung zu einem gelungenen Auslandsaufenthalt. Mit dem persönlichen Finanzplan zur ersten Million: Entdecken Sie Ihre Geldpersönlichkeit und machen Sie mehr aus Ihren Finanzen. Sprachschwierigkeiten bei Kindern: Wie Eltern helfen können. Feng-Shui gegen das Gerümpel des Alltags: Wie wir uns von unnötigem Ballast befreien und endlich wieder Ordnung und mehr Energie in unser Leben bringen können. Sex zwischen den Ohren: Das Gehirn als erogene Zone. Penis pur: Was Männer wissen wollen. Die Kunst des Sterbens: Der Tod und wie wir mit ihm umgehen können. Die Eigentumswohnung: Finanzierung, Erwerb, Nutzung, Verwaltung. Endlich schuldenfrei: Wege in die Restschuldbefreiung.

So durcheinander steht es in den Prospekten und liegt es in den Buchhandlungen auf den entsprechenden Tischen herum. Aber man kann schon anhand der Titel zum Spaß Verläufe konstruieren: Mit dem Gehirn als erogener Zone zum Penis pur, und dann wird man glücklich mit Kind, Job und Partner. In der frisch erworbenen Eigentumswohnung. Nachdem die Eltern dem Kind bei seinen Sprachstörungen geholfen haben, geht es als Gastschüler in die USA, und die Tochter, die ihr Studium abgebrochen hat, entdeckt ihre Geldpersönlichkeit und macht in zwei Jahren die erste Million. Und abends, vor dem Einschlafen spürst du regelmäßig das Gras unter deinen Füßen bei Fantasie- und Märchenreisen mittels autogenem Training. Gern denkst du auch an den Tod und wie du mit ihm umgehen könntest …

Die Ratgeber umstellen deinen Lebens-, ja Tageslauf. Statt in kniffligen Lagen zur Verfügung zu stehen – wie verwerte ich intelligent Bratenreste, mit welcher Blende fotografiere ich bei Mondschein, wie versetze ich das Weib in hinreichende sexuelle Erregung –, stattdessen entwerfen die Ratgeber eine Lebenslandschaft, die ausschließlich aus kniffligen Lagen besteht, für die sie freilich jede Menge Lösungen anzubieten haben, Lösungen, die sich wiederum in sich selbst unendlich verfeinern und verkomplizieren können: Nicht nur Feng-Shui, sondern damit auch noch die Bude aufräumen.

Gut möglich, dass sie hinterher noch heftiger nach Kraut und Rüben ausschaut. Auch die Lektüre des Bulimieratgebers kann schwere Essstörungen fördern, denn bislang wusste ich gar nicht, dass ich an ihnen leide. Von deiner frisch entdeckten Geldpersönlichkeit darf man erwarten, dass sie dir erst mal tüchtig Schulden einbringt, womöglich mehr als eine Million. Ein Glück, dass es wenigstens einen Weg in die Restschuldbefreiung gibt …

Wenn die Ratgeber zur Aufklärung rechnen, die in jede dunkle Ecke und Falte Licht bringen will, dann haben sie natürlich auch Teil an der Dialektik der Aufklärung. Das wimmelnde, sich ständig vermehrende Angebot an Lösungen produziert Probleme in ungeheurer Menge und von durchaus neuer Art. Stellen Sie sich die Frau vor, die frisch belehrt Mann, Kind & Job zu meistern sich vornimmt und am Ende geschieden und arbeitslos zurückbleibt: Sie ist nicht nur das, sie hat auch noch als Leserin von Ratgebern versagt.

Vielleicht schreibt sie einen Ratgeber, wie man alle Ratgeber meidet – und verdient damit ihre erste Million? Auf eine ratgeberfreie Welt zielen im Grunde all die spirituellen, esoterischen, ostasiatischen Ratgeber, die dir ein ebenso geheimes wie unerschöpfliches Kraftzentrum in dir selbst eröffnen wollen, aus dem heraus du von nun an nur noch die richtigen Entscheidungen treffen wirst. Auch sie steigern vermutlich die Nervosität ihrer Benutzer ins Unermessliche: „Dies ist jetzt schon die dritte Märchenreise, und ich entferne mich immer weiter vom Einschlafen, verdammt!“ – Dies wäre die realistische Lektüre. Aber es gibt natürlich auch eine poetische. Sie drängt sich schon bei meinen Exempeln aus dem Ratgeberaltertum auf: Wie aus einem Roman leuchtet der Haushalt herüber, in dem Bratenreste zu Frikadellen verarbeitet werden; das Einlegen eines Films verschwindet ins Unvorstellbare, weil es inzwischen diese Patronen gibt (wenn Sie’s nicht ohnedies digital treiben). Darüber ähnelt sich die Beschreibung unmerklich den Sexualvorgängen an („in die untere Mulde legen“), die van de Velde so innenarchitektonisch zu beschreiben wusste („samtartige Umpolsterung“).

Vielleicht liest niemand, der wirklich Rat braucht, Ratgeber. Vielleicht werden sie sofort wie Romane gelesen, als Entwürfe von Lebens-, ja Tagesläufen, die keineswegs die meinen werden sollen, unmittelbar. Es genügt mir völlig, wenn ich mit dem Gedanken Umgang pflege, dass auch ich über eine Geldpersönlichkeit verfüge, die freilich noch in der Verborgenheit west; die mir aber in kurzer Zeit ein hübsches Vermögen einbrächte, wenn ich sie aus der Verborgenheit entließe. Ich könnte ein Kind sein und Sprachschwierigkeiten haben – indem ich den Ratgeber lese, entdecke ich, dass ich (vermutlich) als Kind Sprachschwierigkeiten hatte! Seit ich weiß, dass ich das Tohuwabohu in meinem Arbeitszimmer mit Feng-Shui beseitigen könnte, schaut es schon viel spiritueller aus.

So entwerfen die Ratgeber die Totalität eines Lebens, das ununterbrochen im Großen wie im Kleinen an der Lösung seiner vielfältigen Probleme arbeitet. Aber es sind nicht meine Probleme, nein, nicht wirklich. Eigentlich schaue ich bloß zu. Mit Vergnügen.

MICHAEL RUTSCHKY, 58, veröffentlichte als Buch zuletzt „Berlin. Die Stadt als Roman“, Ullstein, Berlin 2001, 207 Seiten, 24 Euro