„Die Welt ist keine Bilanz“

Interview KATHARINA KOUFEN

taz: Nächstes Wochenende wird in Washington gegen den IWF demonstriert. Sind Sie dabei?

Joseph E. Stiglitz: Ich bin zu der Zeit in Japan. Aber früher habe ich manchmal an Diskussionen teilgenommen, wenn es darum ging, wie man den IWF reformieren kann.

Bringt der Druck der Straße was?

Der ist auf jeden Fall sehr wichtig. Die Proteste bei der WTO-Tagung in Seattle 1999 haben zum ersten Mal bestimmte Problem ins öffentliche Bewusstsein gerufen. Die Medien waren damals überhaupt nicht auf diese Proteste vorbereitet. Und vier Monate später, beim nächsten Treffen des IWF inWashington, war es dann schon so, dass die Medien die Proteste vorweggenommen haben. Und als die Demos tatsächlich stattfanden, haben Newsweek und Time Magazine Hintergrundartikel geschrieben – darüber, was der IWF in den Entwicklungsländern macht.

Sie als ehemaliger Chefökonom bei der Weltbank hatten die Chance, die Institutionen von innen heraus zu ändern – warum sind Sie gegangen?

Keine Einzelperson kann die bestehenden Institutionen verändern. Die USA haben dort, als einziges Mitgliedsland, ein Vetorecht. Das haben wir vorletzte Woche wieder gespürt: Der IWF hatte die Diskussion über ein internationales Insolvenzrecht angeregt – und das US-Finanzministerium sagte: Auf keinen Fall. Also hat der IWF einen Rückzieher gemacht. Ein einziges Land kann blockieren – das ist ein Beispiel für den Mangel an Demokratie beim IWF.

Wer kann den IWF reformieren?

Der Druck muss von außen kommen. Wenn ich beim IWF eine Rede gehalten habe, zum Beispiel über Schuldenerlass für die Dritte Welt, dann bin ich auf taube Ohren gestoßen. Es war die weltweite Zivilgesellschaft, gebündelt in der „Erlassjahrkampagne“, die politischen Druck ausgeübt hat und den Schuldenerlass erreicht hat. Und Druck muss natürlich auch von den Regierungen der einflussreichen Länder kommen, den USA, Europa und Japan.

Wenn Sie vom IWF reden, scheint es immer, als ob dort ein Haufen Verwirrter durcheinander wurstelt …

Der IWF ist dominiert von Ökonomen, die allesamt einer bestimmten Denkrichtung entstammen. Sie sehen die Welt nur als große Zahlungsbilanz. Ich würde das nicht mehr als Wirtschaftswissenschaft bezeichnen, sondern als Ideologie, weil sie weder durch Evidenz noch durch Theorie gestüzt wird. Aber sie dient den Börsianern. Der IWF drängte die Länder weltweit dazu, ihre Kapitalmärkte zu öffnen und hohe Zinsen festzusetzen. Damit machen die Geldanleger ihr Geschäft. Aber: Weder Theorie noch Realität beweisen, dass die Liberalisierung der Kapitalmärkte in den Entwicklungsländern zu Wirtschaftswachstum geführt hat. Im Gegenteil zeigen sie, dass sie zu Instabilität führt.

Viele Länder sind aber so arm, dass sie Kapital aus dem Ausland brauchen.

Das ist ein gutes Beispiel, wie die Ideologie den Menschenverstand beherrscht. Ostasien zum Beispiel brauchte gar kein Geld! Dort wurden schon vor der Liberalisierung in den 90er-Jahren 30 bis 40 Prozent des Gesamteinkommens gespart, es war also genug Kapital vorhanden. Alles Geld, das von außen hinzukam, lief Gefahr, schlecht ausgegeben zu werden. Zum Beispiel für Hochhäuser in Bangkok, wo nachher niemand ein Büro mieten wollte, weil es schon viel zu viele Büros gab. Ein Gegenbeispiel ist China: Dort hat man sich gegen die Liberalisierung gewehrt – und China hat mehr Auslandsinvestitionen erhalten als irgendein anderes Land. In keinem Land ist die Armut so stark zurückgegangen.

Aber China ist keine Demokratie …

… der IWF hat sich noch nie um Demokratie gekümmert – denken Sie doch mal an sein Vorzeigeland Chile unter Pinochet!

Autoritäre Regime haben es manchmal leichter, ihre Wirtschaft in Schwung zu bringen. Sie müssen sich nicht um Gewerkschaften oder Umweltschutz kümmern.

Ich glaube, in China ist es genau umgekehrt: Gerade weil China eine Diktatur ist, hat man dort immer nach großer öffentlicher Unterstützung gesucht.

Was würden Sie einem Land in Afrika denn empfehlen, woher es Geld bekommen soll?

Was Länder brauchen, sind Direktinvestitionen, die Jobs, Technologie und Dienstleistungen schaffen. Investitionen in den produktiven Sektor also und nicht die „Investitionen“, die der IWF zwar schönfärberisch so nennt, die in Wirklichkeit aber keine sind: In vielen Fällen wird nichts investiert, sondern das Kapital dient ausschließlich der Spekulation, also der Hoffnung, dass sich das Geld ganz von selbst vermehrt, wenn zum Beispiel das Land in eine Krise gerät und seine Währung massiv abwerten muss. Außerdem müssen die Entwicklungsländer mit diesen Produkten Zugang zu dem Märkten in der USA und in Europa erhalten. Der Erfolg der Schwellenländer basiert fast immer auf Export.

Andererseits unterstützen Sie hohe Lohnforderungen. Wie sollen die Unternehmen mithalten können, wenn Spielzeug aus China heute schon nur etwa ein Zehntel so viel kostet wie das hiesige?

Die Industrieländer haben genügend Kapital und genügend funktionierende Unternehmen. Sie müssen ihre Produktion in produktivere Sektoren verlegen. Und eine gute Wirtschaftspolitik muss das unterstützen, sie muss zum Beispiel dafür sorgen, dass auch kleinere Unternehmen Kredite bekommen und nicht Pleite gehen. Die Entwicklungsländer dagegen brauchen viel mehr Hilfe dabei, zum Beispiel von der reinen Landwirtschaft auf die Produktion von Fernsehern umzusteigen.

Es gibt inzwischen IWF-Kredite mit der Auflage, Armut zu bekämpfen. Ist das nur Rhetorik?

Es ist hauptsächlich Rhetorik – aber auch eine veränderte Rhetorik beeinflusst das Verhalten. Früher hat der IWF, wenn er in ein Land ging, sich nicht um Arbeitslosigkeit oder Lohnniveaus gekümmert. Jetzt fängt man an, sich zu überlegen, welche Auswirkungen die IWF-Programme tatsächlich haben. Das ist immerhin ein erster Schritt.

In Ihrem Buch behaupten Sie, die Weltbank funktioniere besser …

In der Weltbank sitzen nicht nur Finanzmenschen, sondern auch Mitglieder von Hilfsorganisationen und Planungsteams. Die Weltbank arbeitet im Gesundheits-, Bildungs- und Umweltbereich. Wenn die Mitarbeiter in ein Land kommen, bleiben sie dort eine Weile, meistens ein paar Jahre, sie fahren aus den großen Städten raus und gucken sich die Projekte an und bekommen einen Eindruck von diesem Land und seinen Leuten. Die IWF-Leute dagegen reisen immer nur in die Hauptstädte, residieren dort zwei Wochen im Fünfsternehotel und meinen dann, sie könnten der Regierung dort erklären, wie ihre Wirtschaftspolitik auszusehen hat.

Kritiker fordern, der IWF sollte sich ganz aus den Entwicklungsländern zurückziehen und diese der Hilfe der Weltbank überlassen.

Der IWF sollte keine längerfristigen Kredite vergeben. Kritiker von ganz rechts bis ganz links sind sich da einig. Der IWF ist kein Entwicklungshelfer und hat in den Ländern nur Chaos angerichtet. Allerdings wird es in den Entwicklungsländern immer wieder Krisen geben, und der IWF wird um kurzfristige Hilfe gebeten werden. Das Schlimme aber ist: Nicht einmal hier ist der IWF fähig, obwohl Krisenmanagment doch nun wirklich zu seinen Aufgaben gehört.

Also besser auflagenfreie Kredite?

Das ist unmöglich für eine Finanzinstitution, Geld als eine Art Blankoscheck zu verleihen. Wenn es Auflagen geben soll, dann müssen die schon so formuliert werden, dass sie tatsächlich die Krise in genau dem betreffenden Land bekämpfen helfen – und nicht irgendwelche Pauschalauflagen, wie es derzeit der Fall ist. Obendrein missbraucht der IWF die Kredite für politische Zwecke.

Wie das?

Offiziell müssen hunderte von Bedinungen erfüllt werden, bevor ein armes Land einen Kredit bekommt – und bei manchen Ländern gelten die dann plötzlich nicht. Russland hat 1998 einen Kredit bekommen. Diese 5 Milliarden Dollar flossen ins Land – und am nächsten Tag schon wieder hinaus auf Schweizer Bankkonten. Denn die Gläubiger, deren Forderungen die russische Regierung mit dem Geld begleichen sollte, brachten ihr Kapital natürlich schnell in Sicherheit. Sie waren in Russland hohe Risiken eingegangen, weil sie wussten, der IWF wird sie nicht im Stich lassen. Stellen Sie sich vor: Eine westliche Gläubigerbank rief beim IWF an und fragte, mit wie viel Geld dieser Russland helfen werde, damit das Land ihnen ihre Kredite zurückzahlen kann.

Warum hat Russland diesen Kredit denn bekommen?

Weil die westlichen Länder wollten, dass Boris Jelzin an der Macht bleibt.