Der Gleichstrom der Bilder

Der schwedische Filmemacher Roy Andersson lässt die Institutionen kollabieren, um den Menschen die Souveränität zurückzugeben. „Songs from the Second Floor“ ist ein schöner Film über die Endzeit

von ANDREAS BUSCHE

Erst wenn unsere Weltanschauung von allem ideologischen Ballast befreit ist, können die Bilder eine solche Klarheit und Schärfe erlangen wie in Roy Anderssons „Songs from the Second Floor“. Andersson hat seinen Film an die Botschaft der Bergpredigt angelehnt, aber in einer Szene baumelt ein Plastikjesus an seinem Kreuz wie ein schlecht getaktetes Metronom, und niemand schenkt ihm noch Beachtung. Man hat versucht, ihn auszubeuten, Geld mit ihm zu machen. Am Ende landet ein Haufen Holzkreuze auf der städtischen Müllkippe, weil es Irrsinn ist, an einem gekreuzigten Loser etwas verdienen zu wollen.

Das religiöse Konzept ist endgültig im Eimer. Kein Grund mehr, auf ein Wunder zu warten, nicht in dieser Zeit und an diesem Ort. Jesus C. war eben doch nur ein freundlicher junger Narr – und nicht der Sohn Gottes. Diese Erkenntnis lässt Andersson von einer Gruppe Psychatriepatienten verkünden, und dabei ist nicht einmal mehr sicher, ob das wahre Irrenhaus nicht doch da draußen ist.

Eine Kommission hochrangiger Wirtschaftsvertreter sitzt an einem Konferenztisch und sucht den Weg aus der Rezession in einer Kristallkugel. Irgendwann ist es so weit, dass sie sehen, wie sich die Nachbarhäuser auf sie zubewegen. Zum 100. Geburtstag eines Generals a. D., der nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen scheint, hat sich am Bett des dementen Jubilaren der gesamte militärische Führungsstab versammelt.

Seine brüchigen „Heil Göring“-Grüße während der Zeremonie werden anfänglich noch diskret überhört, als sich dann aber der rechte Arm zum Hitlergruß streckt, herrscht in der Feiergesellschaft betretenes Schweigen (eine typische Grundstimmung des Films). Und durch die Straßen der namenlosen Stadt, in der „Songs from the Second Floor“ spielt, prozessiert eine sektenähnliche Gemeinschaft, die sich in rituellen Bewegungen auf die Knie wirft und geißelt. Alles scheint auf den Beinen, die Stadt erstickt seit Tagen im Stau, und trotzdem streift die Kamera immer wieder durch leer gefegte Straßenzüge, findet artifiziell-überhöhte Bilder der Isolation und bitteren Verzweiflung.

„Songs from the Second Floor“ ist ein wunderschöner Filme über die Endzeit. Andersson hat eine reine Szenenabfolge entworfen, deren lapidarer Groove eine kontemplative Genügsamkeit an den Tag legt. Keine Panik, kein Stress; umso hysterischer wird das lemminghafte Anrennen gegen ein Bollwerk der Absurditäten, das Andersson hier auffährt.

Das Geniale ist nicht, wie er in 64 Einstellungen die gesellschaftlichen Ordnungssysteme Arbeit (Kapitalismus), Religion und Familie aushebelt und durch eine essenzialistische Weltsicht ersetzt (und wie folgerichtig das alles auch tatsächlich funktioniert, wenn die Binsenweisheit „Es ist nicht leicht, Mensch zu sein“ plötzlich zum Leitsatz eines positivistischen Fatalismus wird). Das Geniale ist vor allem, dass er eine völlig hermetische Welt schafft, deren ästhetische Formgebung eine einmalige antiseptische Coolness kultiviert hat. Das leicht grünstichige Aschgrau seiner Bilder erinnert an die Krankenhausatmosphäre aus George Lucas’ „THX 1138“. Anderssons Räume sind – obwohl meistens geschlossen – weitläufig, ihre Fluchtpunkte liegen scheinbar außerhalb des Einflussbereichs der Kamera. Aus dieser Tiefe bewegen sich seine Figuren immer wieder unendlich langsam ins Zentrum einer Szene, bis sie, dort irgendwann angekommen, in eine seltsame Starre verfallen. Der Gleichstrom der Bilder entwickelt sehr bald eine liturgische Emphase, so dass es kaum noch verwundert, als schließlich in der U-Bahn Menschen in choräle Gesänge verfallen. Absurditäten und Trivialitäten, sagt Andersson, sind die Grundfesten unserer Existenz.

Obwohl er aus der Werbung kommt, ist Andersson ein Menschenfreund, aber er muss seine Figuren erst an den Rand des Abgrunds führen, damit sie ihre Selbstachtung wiedergewinnen können. Wie die Jungfrau, die er wortlos opfern lässt, um die Schuld der Menschheit zu tilgen. Der Sinn des Lebens liegt sinnigerweise im Leiden, und man will nicht einmal blasphemische Absichten in dieser Behauptung erkennen.

„Songs from the Second Floor“ ist besser als die Summe seiner Teile. Die grausamen Rituale der Demütigung und Entfremdung, die Anderssons Personal durchleiden muss, erinnern hin und wieder an Monty Python mit einer humanistischen Note, aber erst in der repetitiven Struktur seiner Erzählung, der Verkettung der Episoden zu einer fulminanten spätkapitalistischen Passionsgeschichte, erhält der Film seine lakonische Ernsthaftigkeit. Andersson lässt die Institutionen kollabieren, um den Menschen die Souveränität zurückzugeben. Gar nicht so einfach, dann mit dieser schmerzlichen Freiheit erst mal klarzukommen. Wie der junge Dichter in „Songs from the Second Floor“, der über seiner Poesie verrückt geworden ist. Die richtigen Worte müssen erst wieder gefunden werden.

„Songs from the Second Floor“. Regie: Roy Andersson. Mit Lars Nordh, Stefan Larsson, Lucio Vucina u. a. Schweden 2000, 98 Min.