Schlüsselfertig

Island im Jahr 2020. Endlich hat die Insel eine Eisenbahnlinie. Von Reykjavík in die neue hypermoderne Millionenmetropole Borg

von INGA SVALA THORSDOTTIR

In der isländischen Hauptstadt Reykjavík lebte im Jahr 2002 rund die Hälfte der 260.000 Isländer. Die Stadt ist nur bedingt als urban zu bezeichnen. Das Zentrum gruppiert sich um die zentrale Geschäftsstraße, den Busbahnhof, das Parlament, einige Kirchen sowie den Hafen. Da es bis ins 21. Jahrhundert auf Island keine Eisenbahn gab, wurden weitere Strecken ins Landesinnere per Auto, Bus oder dem Flugzeug zurückgelegt. 1999 begann Inga Svala Thorsdottir mit der Planung der Stadt Borg auf dem nur wenig bewohnten Borgarfjördur nordöstlich von Reykjavík.

Vor sieben Jahren hatte er mich gebeten, ihm ein Haus zu bauen. Jetzt ist es fertig und er unterwegs, um es sich anzusehen. Gegen zwei Uhr sind wir im Café Hauptbahnhof Borg verabredet. Er kommt mit dem alle fünf Minuten fahrenden Zug aus Reykjavík. Das Café, in dem ich auf ihn warte, passt sich der muschelförmigen Anlage des Bahnhofs an, die von einer Cyprina islandica abgeleitet ist. Es reicht über zwei Etagen, und von jedem Platz hat man den Saal wie den Eingang gut im Blick. Es ist Frühling, Seeschwalbeneier stehen auf der Tageskarte. Die Saison für Eier ist kurz, und gewöhnlich sind sie gegen Mittag ausverkauft. Ich freue mich darauf, ihn dazu einzuladen. Jetzt sehe ich, wie er hereinkommt und sich umschaut. Er kennt sich nicht aus.

Ich winke. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit ich Entwurf und Bau seines Hauses übernommen hatte. Die Stimmung ist erst einmal verlegen. Er nimmt drei Eier, ich bestelle also sechs. Die Seeschwalbeneier werden mit mariniertem Hering serviert, dazu gibt es Egils Pils. Er ist erstaunt, wie kurz die Fahrt vom Hauptbahnhof Reykjavík ist. Als Junge habe er für die Fahrt nach Snaefellsnes, zu seinen Großeltern auf dem Land, manchmal einen ganzen Tag gebraucht. Nein, sagt er, seit Beginn der Bauarbeiten sei er nicht mehr in den Borgarfjördur gekommen, sondern wollte bis zum Einzug warten.

Ich schlage vor, dass wir uns zuerst ein Zimmer im Stundenhotel Borg nehmen. Er sagt, er hätte gedacht, dass wir zuerst zum Haus gehen. Ich erwidere, ich wolle ihm zuerst einen Eindruck der Stadtlandschaft geben. Vom Hotel sei die Aussicht sehr gut, aber wenn er es eilig hätte, können wir uns auch gleich aufmachen. Nein, wir hätten Zeit.

Wir zahlen und gehen ostwärts durch den Bahnhof. Im Kiosk am Ausgang kaufe ich uns noch ein bisschen Amphetamin aus lokaler Produktion, Hasch, Cola und Schokolade. Das Stundenhotel Borg ist auf einer Säule errichtet. Die acht Meter hohen Räume haben alle die Form einer geöffneten Kammmuschel, sind aber sehr unterschiedlich eingerichtet. Ein Zimmer in 250 Meter Höhe ist frei. Der Lift in einer durchsichtigen Säule gleitet langsam mitten durch das Hotel. Die Zimmer kreisen um die Säule, und die Aussicht aus dem Lift richtet sich nach ihrer jeweiligen Position. Als wir das Zimmer betreten, ist das Fenster nach Westen gerichtet, auf die Bucht des Faxafloi mit dem Gletscher Snaefellsjökull. Die Einrichtung besteht aus einem hohen, stabilen Tisch mit hufeisenförmigen Einbuchtungen an jeder Seite, einem Messingbett, einer muschelförmigen Badewanne, einem Sofa und einer Multimediastation. Die Transparenz der Fenster lässt sich stufenlos regulieren.

Wir setzten uns auf das Sofa, nehmen etwas von dem Amphetamin, werden klar und weit, allmählich dreht sich die Perspektive des Fensters auf Borg. Die Stadt ist in vier separaten Stadtteilen gebaut, jetzt erscheint Hallarmuli, ein Viertel mit etwa 220.000 Einwohnern. Er sagt, ich könne mir nicht vorstellen, wie sehr er das Kreisen um diese Säule mit mir genieße. Seit dem letzten Mal hätten sich bestimmt alle unsere Zellen erneuert, und doch sei es, als erwachten sie wieder zum Leben, und er fügt hinzu: „Sie brennen mir buchstäblich auf dem Herzen.“ – „Die Hirn- und Nervenzellen sollen die ursprünglichsten sein.“ Wir fügen uns ihrem Willen.

„Wir hatten noch nie in solcher Höhe Sex“, sagt er fröhlich. „Es gab sie in Reykjavík einfach nicht. Der Turm der Hallgrimskirkja war das Höchste, aber wir haben uns nie überwinden können, es in dem Durchzug da oben zu tun. Hast du Hunger?“ Ich bestelle Seehase, Kammmuscheln und Tintenfisch. Dazu gibt es Sojasoße und Meerrettich. Die Leber des Seehasen ist wunderbar, die Muscheln ergänzen sie perfekt, und der Tintenfisch sorgt für Biss. In das Fenster schiebt sich jetzt Eldborg. Bjarnarhöfn, der vierte Stadtteil, ist wegen des Bergrückens von hier aus nicht zu sehen.

Gegen Mitternacht treibt uns die Neugier. Wir könnten laufen, aber das würde einige Stunden dauern. Die Züge fahren rund um die Uhr, und wir haben die Wahl zwischen dem Express und der entschleunigten Schwebebahn. Wir genießen es, durch die helle Nacht zu treiben, hoch über dem Großraum Borg. Der transparente Zug gleitet in weitem Bogen über die Landschaften von Myrar und Akrar. Wir machen es uns in der Bar bequem, rauchen Zigaretten, trinken Egils und schauen durch den Boden des Zuges nach unten.

„Als ich noch ein Mädchen war, habe ich mal Fische durch den Glasboden eines Bootes in Kenia beobachtet. Weißt du, dass sich die Zahl der Wildgänse hier verdoppelt hat, seit mit der Bebauung begonnen wurde, trotz Jagd? Oder gerade deswegen? Die anderen Vögel haben sich ebenfalls vermehrt. 2002 gab es nur ein einziges Adlerpaar im Borgarfjördur, jetzt sind es sechs. Genauso der Eistaucher: Er ist monogam, wie so viele Vögel, und das Paar braucht einen ganzen See für sein Liebesspiel. Letzten Sommer wurden achtzehn Paare gezählt. Sie kommen den ganzen Weg auf unser abgelegenes Inselchen wegen der zusätzlichen Zeit, die ihnen die Nächte hier zum Legen geben.“

Von hier oben wirkt der Borgarfjördur größer, als er ist, da die Stadtviertel sehr dicht bebaut sind. Wir nähern uns Eldborg. Ich erzähle ihm von seinem Haus. Es befindet sich ganz am Rand des Stadtteils. Im Flächennutzungsplan war eine Reihe von halb öffentlichen Bauten vorgesehen, die als Pilotprojekt für bauliche Formung und Konstruktionstechnik gedacht waren. Das Projekt sollte vermarktet werden, um Kapital zu beschaffen für die Realisierung und die weitere Stadtentwicklung.

Da wir für sein Haus kein Geld hatten, nutzte ich diese Gelegenheit. Das Haus ist deshalb auch ein Konzertsaal. Die Form ist von einer Schnecke abgeleitet, die auf Isländisch Stallakrota heißt, die lateinische Bezeichnung lautet Alvania angularis. Die Schnecke hat in der Natur eine Höhe von 5,5 Millimeter und ist 3,8 Millimeter breit. Bei akustischen Untersuchungen bemerkten wir einen erstaunlichen Sound in dieser Schnecke und entschlossen uns, sie entsprechend vergrößert zu bauen.

Wir nehmen den Lift hinauf zur Gleitbahn, er braucht fünfzehn Minuten. Von der Plattform rutscht man hinunter in die verschiedenen Bezirke. Wir nehmen die Bahn nach Westen, sie ist die längste bisher gebaute Rutsche, ein technisches Meisterwerk. Wir setzen uns in einen Schlitten und gleiten los. Die Architektur des Schlittens ist wiederum die Vergrößerung einer Muschel, die Jón Bogason 1982 hier an der Küste entdeckt hat. Sie heißt auf Isländisch Agnarkolla, lateinisch Micropilina minuta. Sie galt als ausgestorben, nur Versteinerungen waren erhalten. Als Jón sie hier fand, wurde allen klar, dass sie die ganzen Turbulenzen, an denen die Dinos eingegangen sind, überlebt hat.

„Ich sehe eine Schnecke“, sagt er, „aber so groß wie das Hotel Borg in Reykjavík.“ – „Wir sind da, hier ist der Schlüssel, bitte, tritt ein.“

INGA SVALA THORSDOTTIR lehrt an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste. Ihr Text ist ein Auszug aus der Erzählung „Micropilina minuta“, erschienen im Katalog zur Ausstellung „Ökonomien der Zeit“ im Kölner Museum Ludwig, Verlag Revolver. Die Zeit-Schau mit Werken von 26 Künstlern läuft bis 2. Juni