Gibt es denn einen anständigen Westen?

Natürlich müssen wir uns auch selbst beschuldigen: Gerade seit dem 11. September reorganisiert sich das Feld der linken Gesellschaftskritik. Mit einer naiven Antikriegsbewegung jedenfalls kann man die Linke nicht gleichsetzen. Eine Erwiderung auf Michael Walzers Essay „Can there be a decent left?“

Man braucht nicht zum Glauben an die Macht von Religion überzulaufen

von MARK TERKESSIDIS

Als ich vor kurzem an der Kölner Universität einem Vortrag von Generalinspekteur Kujat über die Reform der Bundeswehr lauschte, kam es zu einer etwas bizarr anmutenden Störung. Nach einer halben Stunde betrat eine Gruppe aus dem studentischen Alternativmilieu den Saal, die aussah wie ein Klon der Friedensbewegung Marke 80er. Man begann den Vortrag mit Zwischenfragen zu bombardieren, aus denen das allzu bekannte Gemisch aus moralischer Entrüstung, halb garer Imperialismuskritik und Vulgärmarxismus herausklang. Kurz: Es war grauenhaft. Wäre ich nun Professor Michael Walzer, dann hätte ich diese paar Demonstranten wohl zu den Repräsentanten der „Linken“ erklärt und hinübergerufen: Ihr habt eure Haltung verloren, werdet endlich anständig! Werft den schwachsinnigen Marxismus über Bord, der die Weltpolitik in ein „billiges Melodram“ mit „herausgeputzten Schurken“ verwandelt. Tut nicht immer so, als sei die Armut die Wurzel des Terrorismus und zeigt Verständnis für die Macht der Religion! Hört auf, den Westen für alles verantwortlich zu machen, und stellt euch in den Tagen der Not an die Seite eurer zivilisierten Mitbürger, deren „Schicksal“ ihr ja schließlich teilt. Und kritisiert auch endlich mal die anderen außerhalb des Westens!

Wenn die Antikriegsbewegung in den Vereinigten Staaten etwa so aussah wie die versprengten Demonstranten im Kölner Hörsaal, kann ich mir Walzers Unbehagen durchaus vorstellen. Freilich will es mir nicht in den Kopf, warum er ausgerechnet den ohnmächtigen jungen Leuten vorwirft, sie würden die Politik in ein Melodram mit Schurken verwandeln, während der Präsident seines Landes im hollywoodesken Kindchenschema die Verfolgung von evil-doers und rogue-states predigt. Zudem habe ich nicht mitbekommen, wann Michael Walzer seine Meinung über die Wurzeln des Terrorismus geändert hat, denn vor fünf Jahren betonte er in seinem Buch „Über Toleranz“ noch, dass die „lautstärksten Gruppen“ und jene mit den „extremsten Forderungen“ auch die „schwächsten und ärmsten“ seien. Bei den Armen in den Vereinigten Staaten hatte er damals eine zunehmende Zerstückelung und Demoralisierung beobachtet, die es ermögliche, „dass eine wachsende Kohorte rassistischer und religiöser Demagogen und windiger Charismatiker sich zu ihren Sprechern aufwerfen und sie nicht selten ausbeuten“.

Warum hat ihm nun ausgerechnet der 11. September die autonome Macht der Religion vor Augen geführt? Tatsächlich hat der Islamismus mit Religion im traditionellen Sinne wenig zu tun. Immer wieder haben intelligente Kritiker des Phänomens wie Aziz Al-Azmeh darauf hingewiesen, dass der Islamismus stark von westlichen Einflüssen geprägt wurde. All die Vorstellungen von Gesellschaft, authentischer Identität und Revolution stammen aus dem Westen. Selbst die Scharia hat sich bei den Islamisten aus einer losen Sammlung von Texten und Präzedenzfällen in positives Recht nach kontinentaleuropäischem Vorbild verwandelt. Zudem betreiben islamistische Gruppen eine äußerst (post-)moderne Symbolpolitik. So könnte man die Ausdrucksformen der Taliban als genuinen Terror-Style bezeichnen. Zweifelsohne stellt der westliche Konsumismus angenehmere Mittel bereit, um seine Zugehörigkeit via Stil auszudrücken, doch die Mechanik von Symbolcode und Abgrenzung funktioniert letztlich genau gleich. Mit Religion hat so etwas wie die Burka nur vordergründig zu tun.

In diesem Sinne sind auch die Gangster, die Warlords und die fanatischen Selbstmordattentäter nicht etwa völlig fremde, unbegreifliche Andere, sondern die gruseligen Pendants zum neoliberalen Inividualismus. Unter den Bedingungen von sozialem und ökonomischem Zerfall setzen diese Personen nichts anderes als ihre persönliche Freiheit durch. Es handelt sich nicht um die Ärmsten der Armen, sondern oft genug um kreative und intelligente Menschen, welche die Kontrolle über ihr Leben und ein Stück Souveränität zurückgewinnen wollen, indem sie den Tod als absolute Grenze verachten – daher ist es auch überhaupt nicht verwunderlich, dass so unterschiedliche Erscheinungen wie der US-amerikanische Gangster-Rap, die jugoslawischen Ethno-Krieger-Folklore und die islamistische Märtyrerverehrung einen Kult des Todes gemeinsam haben. Gerade in den US-amerikanischen Cultural Studies gibt es haufenweise Analysen, die einen komplizierten Zusammenhang herstellen zwischen kulturellen Ausdrucksarten und dem sozialen Kontext – man muss also nicht wie Walzer von der Kritik des Vulgärmarxismus zum Glauben an die autonome Macht von Religion und Werten überlaufen.

An den erwähnten Beispielen lässt sich ablesen, wie weitgehend westliche Denk- und Handlungsmuster sich mittlerweile auf der Welt durchgesetzt haben – in diesem Sinne benutzen Antonio Negri und Michael Hardt den Begriff „Empire“. Das heißt weder, dass der Westen für lokale Konflikte direkt verantwortlich ist, noch dass westliche Staaten die Möglichkeit hätten, solche Konflikte jederzeit schnell zu lösen. Dass der Westen dennoch verantwortlich gemacht wird, darüber kann sich Walzer gleichwohl nicht beschweren. Hat er schon vergessen, mit welchem Größenwahn 1989 der endgültige Triumph von Demokratie und Marktwirtschaft verkündet wurde? Und welche Enttäuschung für viele Menschen die Begegnung mit einem Westen war, bei dem die Rede von den Werten und die unschöne Praxis oft weit auseinander klafften? Die Menschen, die den Westen für „alles verantwortlich“ machen, sind eben auch jene, die am meisten an Menschenrechte und an Gerechtigkeit glauben.

Zudem spiegelt die pauschale Beschuldigung der Vereinigten Staaten die Omnipotenzgefühle der dortigen Regierung zurück. Ein bekanntes Mitglied der unabhängigen Opposition in Belgrad erzählte mir folgende Episode. Kurz nach Milošević’ Abwahl hatte man ihn in die wiedereröffnete US-amerikanische Botschaft gebeten, um Gespräche über die Zukunft Serbiens zu führen. Dort präsentierte man ihm jedoch nur eine Liste von Leuten, mit denen man in Zukunft zusammenarbeiten wolle. Wie er meinte, war die eine Hälfte der Personen auf der Liste Kriegsverbrecher, die andere Hälfte korrupt. „Sie schaffen ein Monster“, meinte er zu den Anwesenden. „Ja“, wurde ihm geantwortet, „aber es ist unser Monster.“ Außerdem spielt in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten Demokratie oft nur eine rhetorische Rolle – belohnt werden in den meisten Fällen solche Akteure, die Gewalt anwenden. Jahrelang hat Ibrahim Rugova unermüdlich auf die Situation im Kosovo hingewiesen – doch erst als die UÇK Gewalt anwandte, zeigte man Interesse. In Afghanistan wurden jene Kräfte als Verbündete angeworben, die, bevor sie sich Nordallianz nannten, das Land durch ihre Ränkespiele in den Ruin trieben. Die Allmachtsfantasien, die permanente Belohnung von Gewalt und die Abwesenheit von jeder längerfristigen Entwicklungsstrategie produzieren am Ende Monster, die plötzlich an die heimische Tür klopfen. Ussama Bin Laden war bekanntlich mal ein Verbündeter der Vereinigten Staaten.

Nichts scheint mir daher falsch daran zu sein, „uns“ zu beschuldigen – gerade weil das „Schicksal“ dafür gesorgt hat, dass ich in einem bestimmten Staat lebe, habe ich als Bürger die Verpflichtung, insbesondere diesen Staat zu kritisieren. Vor allem, wenn diese Regierung Werte im Mund führt, für deren Realisierung ich mich einsetze. Walzer ist selbst Opfer einer Rhetorik geworden, welche den zweifelsohne dramatischen Anschlag vom 11. September zur existenzgefährdenden Bedrohung hochstilisierte und daher zum Anlass für die Erklärung des Ausnahmezustands nahm, der nach innen Homogenität herstellen soll und nach außen freie Hand haben will. Derweil wird Donald Rumsfeld in den USA als Sexsymbol gefeiert und der Krieg beliebig ausgeweitet. Selbstverständlich darf die Kritik an den Vereinigten Staaten und am Westen nicht dazu führen, Typen wie Milošević oder Saddam zu entschuldigen oder gar zu verteidigen – da gebe ich Walzer Recht. Dass das geschieht, hat weniger mit der fortgesetzten Idealisierung der „Dritten Welt“ zu tun als mit der Einengung von Alternativen. Derweil scheint es vollkommen evident, dass die einzige Möglichkeit der westlichen Intervention im Rest der Welt militärischer Natur sein kann. Quer zum Krieg scheint es nichts mehr zu geben.

Daher kommt es darauf an, sich solchen Alternativen zu entziehen und eine universelle Perspektive in Richtung sozialer Gerechtigkeit neu zu definieren. Meine Ohnmacht angesichts der Verhältnisse werde ich als linker Intellektueller nicht überwinden, indem ich mich an die Seite von George W. Bush stelle. Der ist auf meine Unterstützung sicher nicht angewiesen.

Warum Walzer schließlich die Antikriegsbewegung mit „der Linken“ gleichsetzt und sich selbst mit dieser Linken überhaupt noch identifiziert, weiß ich auch nicht genau. Ich kann das eingangs erwähnte Grüppchen von Friedensaktivisten für repräsentativ erklären und rüde kritisieren. Oder ich kann zur Kenntnis nehmen, wie vielfältig die Meinungen und Aktivitäten im linken Spektrum sind – Stichwort: Antiglobalisierungsprotest. Ich kann mich über den Vulgärmarxismus beklagen oder ich kann feststellen, wie lebendig die marxistisch inspirierte Analyse bei so verschiedenen AutorInnen wie Naomi Klein, Giorgio Agamben, Toni Negri und Michael Hardt ist. Gerade seit dem 11. September ist auf dem Feld der Gesellschaftskritik mehr Reorganisation im Gange, als Michael Walzer noch zu sehen imstande ist. Und vielleicht muss man sich auch eingestehen, dass man mit hoher Wahrscheinlich nicht mehr links ist, wenn man zusammen mit Samuel P. Huntington Manifeste unterschreibt, die der aktuellen Politik der Regierung Bush philosophische Legitimation verschaffen – einer Politik, in der die Fortsetzung des Krieges zum Selbstzweck geworden ist.

Michael Walzers Essay ist abgedruckt in der taz vom 13. April dieses Jahres