Welchen Wert hat die Schreibkraft?

Nicht nur ist die Berufs- und Einkommenssituation von Frauen hierzulande schwieriger, die deutschen Tarifverträge verstoßen auch gegen EU-Recht

von HEIDE OESTREICH

Unschöne Tatsachen musste die Bundesregierung gestern mit dem ersten „Bericht zur Berufs- und Einkommenssituation von Männern und Frauen“ vorstellen. Wieder einmal zeigen schnöde Zahlen, dass Deutschland bei der Gleichstellung von Männern und Frauen den Anschluss verpasst hat. 42 Prozent der Frauen sind gar nicht am Erwerbsleben beteiligt. Von den 58 Prozent, die arbeiten, sind mehr als ein Drittel in Teilzeit beschäftigt. Auch wenn Frauen Vollzeit arbeiten, verdienen sie im Schnitt 15 Prozent weniger als Männer. Im Westen erhalten Frauen 75 Prozent von dem, was Männer bekommen. Im Osten sind es immerhin 95 Prozent. Dennoch ist Deutschland mit dieser Differenz laut Eurostat Schlusslicht in Europa.

Neben diesen unerfreulichen Zahlen birgt der Bericht weiteren Sprengstoff: Nicht nur mangelnde Kinderbetreuung und die daraus folgende unstete Erwerbsbiografie von Frauen machen den Unterschied. Oder dass viele von ihnen in weniger qualifizierten und deshalb schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Nein, in Kapitel 6 des Berichts heißt es in schlichten Worten: „Betrachtet man die Tarifverträge unter dem Blickwinkel des europäischen und deutschen Rechts zur Entgeltgleichheit, ist festzustellen, dass sie in der Mehrzahl nicht rechtskonform gestaltet sind.“ Mit anderen Worten: Deutsche Tarifverträge widersprechen europäischem und auch deutschem Recht, finden die AutorInnen. Das nämlich schreibt vor, dass die Arbeit von Männern und Frauen nach gleichen Kriterien bewertet werden muss. Wenn Frauen und Männer im gleichen Beruf arbeiten, geschieht dies mittlerweile auch. Es gibt aber „männerdominierte“ oder „frauendominierte“ Berufe, die keineswegs nach gleichen Kriterien bewertet werden, führt der Bericht aus. Von einem Geschlecht „dominiert“ nennt man einen Beruf, in dem mehr als 70 Prozent der Beschäftigten einem bestimmten Geschlecht angehören.

Bei einer „Schreibkraft“, einem typischen Frauenberuf, finden sich in den Druck-Tarifverträgen schlicht keine Bewertungskriterien, nur eine „Ausbildung“ sollte sie haben. Der „Lagerarbeiter“ dagegen muss „genau“ sein und „gewissenhaft“, braucht vielleicht sogar „Vorkenntnisse“ oder eine „Einarbeitungszeit“: Bei so viel Anforderungen nimmt es nicht wunder, dass er mit 153 Euro mehr Lohn nach Hause geht als die Sekretärin. Die immerhin einen Beruf gelernt hat – im Gegensatz zum Lagerarbeiter. Solche „mittelbare“ oder „indirekte“ Diskriminierung finde in deutschen Tarifverträgen massenweise statt, meinen die Autorinnen des Berichts. Und die ist qua EU-Richtlinie verboten.

Das wollte die Regierung in diesem Bericht nicht so gern lesen, wochenlang staubte das Konvolut in den Ministerien und im Kanzleramt vor sich hin, nachdem es eigentlich schon 2001 hatte vorgestellt werden sollen. Nun legt sie eine Stellungnahme bei, in der sie sich von dem Bericht distanziert: Die Arbeitsgruppe des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) ziehe „voreilige Schlüsse auf angebliche Rechtswidrigkeit von Tarifverträgen“. Ihre Betrachtung sei „einseitig“ und blende „die Hintergründe der gegenwärtigen Ausgestaltung der Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes völlig aus“. Auch müsse man berücksichtigen, dass „Angebot und Nachfrage“ auf dem Arbeitsmarkt die Vergütungsstruktur mitbestimmten.

Sehr allgemeine Einwände. Dabei sind etwa in Großbritannien schon verschiedene Lohnklagen gegen solche Systeme erfolgreich gewesen. Es könnte sein, dass die Debatte über „Equal Pay“ in Deutschland der in den angelsächsischen Ländern schlicht hinterherhinkt. Wohl auch deshalb hat die Regierung im Sommer zu einer Internationalen Konferenz über das Thema geladen. Auch eine Arbeitsgruppe des Innenministeriums beschäftigt sich mit der Frage, ob der BAT diskriminierende Elemente enthält. Dennoch hält das Innenministerium vorsichtshalber in dem Bericht fest: „Die Arbeitgeber des Öffentlichen Dienstes teilen diese Meinung nicht.“