Tschernobyl: 16 Jahre, kein Ende

Streit über den geplanten teuren Sarkophag über dem Unglücksreaktor. Explodierte damals 1986 der größte Teil des Brennstoffs außerhalb des Gebäudes und gelangte in die Umwelt? Atomnovelle der Bundesregierung heute im Gesetzblatt

von REINER METZGER

Heute vor 16 Jahren, um 1.23 Uhr und 44 Sekunden, explodierte der Reaktor Nummer 4 in Tschernobyl. Die Katastrophe sollte lange bewältigt sein, doch weit gefehlt: Die Zahl der Strahlenkranken steigt weiter. Und die westlichen Regierungen geben in den kommenden Jahren 768 Millionen Dollar für einen zweiten Sarkophag in der Ukraine aus. Die Stahlkonstruktion namens „Shelter Implementation Plan“ (SIP) soll den gesamten Reaktorblock überspannen und für 100 Jahre das Austreten von radioaktiven Wolken verhindern.

Auch politische Nachwehen in Deutschland sind noch zu spüren. Nach der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten wird das neue Atomausstiegsgesetz ausgerechnet heute im Bundesgesetzblatt verkündet und tritt morgen in Kraft. Umweltminister Jürgen Trittin freut sich über diese „konsequente Antwort auf Tschernobyl“ und hofft, dass im Jahr 2003 mit Stade der erste Reaktor stillgelegt wird.

Hingegen kritisierte gestern in Berlin der einzige Minister, der in Deutschland bisher wirklich Reaktoren zum Abschalten gezwungen hat, die derzeitige Tschernobyl-Politik der Bundesregierung und anderer westlicher Staaten: Sebastian Pflugbeil, unter der Regierung Modrow 1990 in der DDR „Minister ohne Geschäftsbereich“ und derzeit Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz (www.gfstrahlenschutz.de). Laut Pflugbeil gibt es viele Indizien dafür, dass der neue Sarkophag über dem Unglücksreaktor teuer, aber unnütz ist. Denn seiner Meiung nach wurde bei der Explosion 1986 fast der gesamte Kernbrennstoff aus dem Reaktorgebäude herausgeschleudert. Es mache also wenig Sinn, in den kommenden Jahren für eine knappe Milliarde Euro eine zweite Hülle zu bauen. Der Physiker beruft sich dabei auf Daten und Beobachtungen eines russischen Kollegen, Konstantin Tschetscherow. Der sei „im Gegensatz zu allen westlichen Experten“, so Pflugbeil, bereits rund 1.000-mal im beschädigten Reaktorgebäude gewesen und konnte dabei die angeblich großen Mengen radioaktiven Materials nicht finden.

Laut den offiziellen Daten, auf die sich unter anderem auch die bundeseigene Gesellschaft für Reaktorsicherheit (www.grs.de) beruft, geschah die Explosion 1986 im Reaktorschacht, die hochstrahlenden Brennstoffe verteilten sich dann zu über 90 Prozent dort und in den umliegenden Räumen. Die Spuren dieser Explosion müssten noch heute deutlich zu sehen sein – sind sie aber laut Tschetscherow nicht. Vielmehr sei ein großer Teil der Installationen an der Wand des Schachts noch intakt – undenkbar, wenn es unmittelbar daneben geknallt hätte.

Tschetscherow entwickelte eine andere Theorie: Als die Leistung des Reaktors durch die fehlerhaften Experimente innerhalb von Sekunden auf das 30fache der Nennleistung steigt (300.000 Megawatt), schießt der komplette Reaktorblock nach oben und explodiert dann etwa 20 Meter über dem Reaktorsaal in einer atomaren Kettenreaktion. Im Reaktorsaal fanden Pflugbeil und Tschetscherow bei einer Begehung die Hitze- und Strahlungsspuren dieser Explosion.

Dieser andere Hergang hätte dramatische Konsequenzen: Dann wären über 90 Prozent der Kernbrennstoffe in die Umwelt geschleudert worden, im Reaktor bliebe nur noch der geringste Teil. Damit wäre der neue Sarkophag sinnlos. Außerdem hätte das Szenario Folgen auch für die Risikoabschätzung bei anderen – zum Beispiel westlichen – AKWs. Es müssten nämlich die Auswirkungen einer solchen atomaren Explosion nebst einer größeren Menge verdampften Plutoniums in die Katastrophenszenarien einbezogen werden.

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