Ein Buchhalter sieht rot

Der Massenmörder im Spießer: In B. S. Johnsons böser Parabel „Christie Malrys doppelte Buchführung“ ist der Kontostand der Gesellschaft niemals ausgeglichen

Statt aus Distanz zu schreiben, lässt auch Johnson sich von Christie kontrollieren

In der Rechnungsabteilung einer Kuchenfirma. Dort arbeitet Christie Malry. Von außen betrachtet ist er ein gewöhnlicher Angestellter – ein einfacher Mensch, der wenig Freunde und wenig Abwechslung im Leben hat. Einer, dem nichts wichtiger zu sein scheint als ein bisschen Sicherheit, seine paar Ersparnisse und ab und zu ein wenig Sex mit seiner Freundin. Ein Spießer.

In Christies Innenleben sieht es allerdings anders aus. Denn Christie hat ein feines Gespür für die Ungerechtigkeiten des Lebens, und er hat sein persönliches System gefunden, um sie zu bekämpfen: die doppelte Buchführung.

Christie Malrys doppelte Buchführung ist keine gewöhnliche Auflistung von Soll und Haben. In Christies Rechnung stehen auf der Sollseite die Ungerechtigkeiten, die ihm seine Umwelt zufügt. Dazu gehört zum Beispiel: „mangelndes Mitgefühl des Bürovorstehers – 6,00 Pfund“. Die Habenseite führt dagegen die persönlichen Entschädigungen an, mit denen Christie seinen Kontostand ausgleicht, etwa: „Kratzer auf Fassade des edwardischen Büroblocks – 0,05 Pfund“.

Wenn Christie sich nicht gut behandelt fühlt, wenn er deshalb wütend wird, tut er etwas, um sich Genugtuung zu verschaffen. Er kratzt mit einer Münze einen langen Strich in die Steinfassade eines Bürogebäudes. Christie, der Spießer, wird zum heimlichen Anarchisten, der seine eigenen Regeln macht. Allerdings ist Christies Konto niemals ausgeglichen. Die Sollseite ist immer höher als die Habenseite, Christie kommt nicht damit hinterher, die Unannehmlichkeiten, die ihm widerfahren, auszugleichen mit den kleinen Triumphen seines Alltags, einer Bombendrohung in einem Theater beispielsweise.

Christie sieht sich als Opfer der Gesellschaftsordnung, und je länger er seine doppelte Buchführung betreibt, desto ungerechter fühlt er sich behandelt. Zunächst geht es ihm vor allem daran, sich an seinen Vorgesetzten zu rächen. Als sich ein Kunde beschwert, er habe Ungeziefer in einem Kuchen gefunden, gibt Christie die Beschwerde einfach nicht weiter und erfreut sich daraufhin an dem dicken Streit, der sich zwischen Kunde und Firma abspielt und bei dem er die Fäden zieht.

Irgendwann aber wird Christie ein bisschen kleinlich und er fühlt sich selbst durch Reklame belästigt, die er auf der Straße sieht. Er findet immer neue Dinge, die ihm nicht passen; und er wird brutaler, was seine persönliche Entschädigung dafür angeht: Er sprengt das Gebäude der Steuerbehörde in die Luft, erstmals gibt es Tote bei einer seiner Aktionen. Dann vergiftet er das Trinkwasser der Stadt, 20.000 Menschen müssen sterben. Christie berechnet die Toten für seine Habenseite: 1,30 Pfund pro Kopf.

Der Roman „Christie Malrys doppelte Buchführung“ erschien bereits 1973 in England, sein Autor, Bryan Stanley Johnson, starb im gleichen Jahr. Das Besondere an dem Buch ist der direkte Dialog, in dem Autor und Protagonist stehen. Johnson beschreibt nicht aus literarischer Distanz einen abgedrehten Menschen, dem es gefällt, heimlich eine enorme Macht auszuüben. Stattdessen lässt auch er sich von Christie kontrollieren. Dieser verlangt zum Beispiel, die Geschichte müsse brutal sein und komisch. Das ist sie wirklich, und experimentierfreudig und überraschend ist sie auch. Eine britisch-böse Geschichte über die versteckte Anarchie.

JENNY FRIEDRICH-FREKSA

B. S. Johnson: „Christie Malrys doppelte Buchführung“. Aus dem Englischen von Michel Walther. Argon Verlag, Berlin 2002, 224 Seiten, 18 €