Das Leben, wie sie es nicht kennen

Mit „Y tu mamá también“ hat der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón ein Roadmovie gedreht, das dem Hormonüberschuss seiner jugendlichen Hauptfiguren mit freundlich-distanziertem Blick begegnet. Wenn die Kamera aus der Handlung ausschert, öffnet sich Raum für viele Geschichten

von HARALD PETERS

Jano muss es wissen: „Um ein Schriftsteller zu sein“, erzählt er seinem 17-jährigen Cousin Tenoch, „brauchst du Lebenserfahrung. Und ehrlich gesagt, was weißt du schon über das Leben?“ Was Jano zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ist, dass seine Frau Luisa sich kurz darauf mit Tenoch und dessen bestem Freund Julio auf eine Reise Richtung Meer begeben wird. Und Tenoch und Julio wissen nicht, dass sie am Ende dieser Reise mehr über sich wissen werden, als sie jemals wissen wollten. Dass Luisa weiß, worauf sie sich einlässt, könnte allerdings sein. Sie ist die zehn Jahre ältere Frau, die ihren jugendlichen Begleitern etwas über das Leben, wie sie es nicht kennen, zeigt, um dabei ein Stück von dem Leben, wie sie es selbst nicht führt, zu finden.

„Y tu mamá también“ ist ein Roadmovie, ein Bildungsroman und eine Komödie. Er erzählt eine Geschichte über die Jugend, das Erwachsenwerden und das Erwachsensein, eine Geschichte über Sehnsucht, Freundschaft und Sex; er erzählt eine Geschichte über Mexiko und seine Klassengesellschaft und nebenbei auch eine Geschichte über das Geschichtenerzählen selbst. Dabei ist der Film derart clever gebaut, dass man mitunter nicht einmal merkt, wie clever er eigentlich ist.

Die Besonderheit liegt im Detail, in der kunstvollen Beiläufigkeit, mit der Regisseur Alfonso Cuarón seine Zutaten arrangiert. Mit schöner Regelmäßigkeit löst er die Bindung von Tonspur, Bild und Plot, lässt die Kamera aus der Handlung ausscheren, widmet sich den kleinen Geschichten am Wegesrand, die der Erzähler aus dem Off dann mit wenigen Sätzen skizziert. So erfährt man von dem Schicksal des Maurers, der eines Tages von einem Lkw erfasst wird, als er auf dem Gang zur Arbeit eine viel befahrene Straße überqueren muss, weil es meilenweit keine Fußgängerbrücke gibt; man erfährt von dem Fischer, der bald nicht mehr fischen wird; man trifft auf Pro-Chiapas-Demonstranten, Bauern in Festtagskleidung und ein frisch vermähltes Ehepaar in einem geschmückten VW-Käfer. All diese Leute spielen im Rahmen des Hauptplots zwar keine Rolle und treten folglich im Weiteren nicht wieder auf. Zugleich machen sie deutlich, dass Ereignisse wie Momente erstens flüchtig sind, dass zweitens nichts wirklich von Dauer ist, dass aber drittens alles mit vielem zusammenhängt. Oder wie Tenoch und Julio sagen würden: „Die Wahrheit ist cool, aber sie ist unerreichbar.“

Aber was könnte die Wahrheit sein? Während Tenoch und Julio sich wie hormonal überforderte Gockel aufführen, durchschaut Luisa als Einzige ihr aufgeplustertes Spiel: „Was ihr wirklich wollt, ist doch miteinander zu ficken!“ Und mit ihrer Vermutung liegt sie nicht falsch: Sie leben in größtmöglicher Nähe, schlafen heimlich mit der Freundin des jeweils anderen und wichsen regelmäßig Seite an Seite. Sex wäre der letzte konsequente Schritt, der aber das Ende der Freundschaft bedeuten würde, wie sie sie kennen. Und so beharren sie darauf, dass die Wahrheit unerreichbar ist, und vermeiden gemeinsamen Sex, vermeiden es, von der allgegenwärtigen Armut Notiz zu nehmen, und vermeiden es auf diese Weise, erwachsen zu werden.

Doch die Tage der Unbefangenheit ziehen vorüber, und auf jedem, selbst dem fröhlichsten Moment, liegt ein Hauch von Wehmut und Abschied. „Möchtet ihr ewig leben“, wird Luisa Tenoch und Julio fragen, um ihnen später den rätselhaften Satz mit auf den Weg zu geben: „Das Leben ist wie Schaum. Man muss sich ihm hingeben wie das Meer.“ Schön gesagt. Ziemlich unerreichbar und cool.

„Y tu mamá también – Lust For Life“. Regie: Alfonso Cuarón. Mit Gael García Bernal, Diego Luna, Maribel Verdu u. a., Mexiko 2001, 105 Min.