„Als hätte sie alles erst gestern erlebt“

Wie geht Traudl Junge, die ehemalige Privatsekretärin Hitlers, mit ihrer Vergangenheit um? Indem sie davon erzählt, anstatt sich zu rechtfertigen. Die Dokumentation „Im toten Winkel“ hat ihr gebannt dabei zugesehen. Ein Gespräch mit Othmar Schmiderer, der an der Seite von André Heller Regie führte

„Sie hat es sich nie verziehen, als junges Mädchen so naiv gewesen zu sein“

Interview CRISTINA NORD

taz: Herr Schmiderer, wie kam es zu der Begegnung mit Traudl Junge, der ehemaligen Privatsekretärin Adolf Hitlers?

Othmar Schmiderer: Frau Junge hat die Anne-Frank-Biografie von Melissa Müller gelesen und ihr das Manuskript geschickt, das sie 1947 niedergeschrieben hat. Frau Müller gab das Skript an André Heller weiter, der dann mit Frau Junge Kontakt aufnahm. Über die Produktionsfirma DOR-Film, mit der ich meinen letzten Film produzierte, kamen schließlich André Heller und ich zusammen.

Wie oft haben Sie sich zu Gesprächen verabredet?

Wir haben Frau Junge an vier Nachmittagen in München getroffen. Am Anfang war nicht klar, ob sie das Gespräch wirklich machen würde. Wir haben einen Termin vereinbart, doch kurz davor hat sie angerufen, sie habe Kreuzschmerzen, sie könne nicht. Daraufhin hat Heller ihr vorgeschlagen, er besorgt ihr den besten Arzt von München, und wir warten so lange, bis sie Zeit hat. Es hat nicht lange gedauert, bis sie wieder angerufen hat und bereit war, uns zu empfangen. Frau Junge war interessiert daran, André Heller kennen zu lernen, und ihm ist es gelungen, sie zu überzeugen: Es wäre gut für sie, über ihre Geschichte zu sprechen.

Wie verliefen die Gespräche?

Es war ein wesentlicher Punkt, das Equipment zu minimieren. Wir haben kein Licht gesetzt und mit einer kleinen Digitalkamera gedreht. Wir sind nicht als Journalisten aufgetreten und auch nicht als Filmteam, und wir haben uns für das Leben der Frau Junge interessiert, nicht für Hitler, Göring und Himmler. Insofern ist in relativ kurzer Zeit ein Vertrauensverhältnis entstanden. Nach dem ersten Gesprächsnachmittag ist das Ganze aus ihr herausgebrochen wie ein Wasserfall.

Traudl Junge schildert sehr klar, man gerät rasch in den Bann ihrer Erzählung.

Wir waren selbst beeindruckt, welch begnadete Erzählerin Frau Junge ist. Wir hatten das Gefühl, sie hätte alles erst gestern erlebt. Und man auch am Film: Sie hat sich ihr Leben lang wirklich mit der Geschichte, mit ihrer Geschichte auseinander gesetzt.

Wie kam es zu der Entscheidung, den Film ganz bei ihr, bei ihrem Oberkörper, ihrem Gesicht zu lassen und auf zusätzliches Material, Archivbilder etwa, zu verzichten?

Wir haben bewusst gesagt: Wir wollen einen Gegenpunkt zu den herkömmlichen Fernsehreportagen setzen, die zum Teil unerträglich sind, diese zusätzlichen Scheindramatisierungen, dann auch noch mit Musik unterlegt, die von weit hergeholt sind und vom Menschen und damit von der Tiefe einer Auseinandersetzung ablenken. Da Frau Junge eine so begnadete Erzählerin ist, war es noch einmal klarer, völlig auf Material zu verzichten. Ich glaube, der Film bestätigt, dass ein 90-minütiges Gespräch spannender sein kann als so mancher Spielfilm.

Zumindest weniger vorhersehbar als Dokumentationen, die mit Archivmaterial Objektivierung behaupten. Was ich sehr berührend fand, ist, dass sie sich nie entschuldigt.

Das hat uns auch fasziniert. Dass sie zu ihrem Leben steht, wie es war, das spricht für sich. Sie spricht für sich. Wenn man sich diesen 25-minütigen Monolog – das ist ja fast schon ein Beckett-Monolog, den sie über die letzten Tage im Bunker anstimmt – anhört, dann muss man daraus einfach eine Form ableiten: Denn es ist ein Glücksfall, wenn man 25 Minuten ohne Schnitt auskommt und in dieser Dichte stehen lassen kann. Es liegt auf der Hand, die formale Struktur daraus entstehen zu lassen.

Sie haben 10 Stunden lang gedreht. Wie haben Sie anschließend das Material ausgewählt?

Nach den vier Nachmittagen in München hatten wir sieben Stunden Material. Daraufhin haben wir eine Fassung von dreieinhalb Stunden geschnitten und Frau Junge nach Italien, in Hellers Haus, eingeladen, um ihr das Material zu zeigen. Mir war klar, dass das eine zusätzliche Ebene sein könnte, noch einmal mit Frau Junge zu drehen und ihr die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu korrigieren. Und wie man im Film sieht, gibt es kurze Einschübe, in denen sie sich korrigiert, während sie sich das Material anschaut. Das fällt auf den Betrachter zurück, insofern er, wenn er sieht, wie sich jemand selbst betrachtet, unweigerlich auf seine eigene Position reflektiert. Entscheidend sind die Bilder, die beim Betrachter selbst entstehen.

„Wir sind nicht als Journalisten aufgetreten und auch nicht als Filmteam“

Hat Frau Junge bei der Auswahl mitgewirkt?

In einer gewissen Weise. Nicht dass sie gesagt hätte: Das kann in dieser Form nicht sein. Aber es war zum Beispiel interessant zu sehen, worauf sie reagiert und wie sie auf sich selbst reagiert. Es war für sie nicht leicht, sich selbst zum ersten Mal zu hören und zu sehen. Es sind ja nur drei Monate zwischen den ersten Gesprächen und diesen Augenblicken, und man sieht, wie sich ihre Ausdrucksweise geändert hat.

Sie wirkt gealtert in den Szenen, in denen sie sich auf Video sieht.

Das ist verständlich: Es war das erste Mal, dass sie ihre Geschichte wirklich losgelassen hat. Das ist das Wesentliche an diesem Film, das, was die Qualität ausmacht: dass sich drei Menschen im richtigen Moment getroffen haben und zu einer offenen Begegnung bereit waren. Die Kunst besteht darin, sie nicht zu wollen, sie passieren zu lassen. Und in den Gesprächen ist etwas passiert, ich würde fast sagen, das war höhere Regie. Für Frau Junge war das nach all diesen Jahren sicherlich nicht einfach, loszulassen. Das hat sie uns letztendlich bestätigt, noch kurz vor ihrem Tod. Als wir miteinander telefonierten, sagte sie: „Jetzt habe ich die Geschichte losgelassen, jetzt lässt mich das Leben los, und ich beginne, mir zu verzeihen.“ Sie hat sich ihr ganzes Leben über nicht verzeihen können, dass sie als junges Mädchen so naiv war und weggeschaut hat bei gewissen Dingen.

Hat sie den fertigen Film gesehen?

Ja. Wir waren im November in München bei ihr, denn es war abgemacht, dass es an ihr liegt, den Film freizugeben. Sie war sehr angetan von dem Ergebnis. Am Anfang hat sie sich schon gewehrt. Auch während der dreieinhalbstündigen Fassung sagte sie, es seien zu viele Anekdoten, das verstehe heute gar niemand mehr. Und sie hat Angst gehabt, dass die Ewiggestrigen sich da auf den Film stürzen. Sie hatte sehr große Bedenken. Doch letztendlich hat sie es freilassen können, und das war auch für sie sehr gut.