Pornografische Projektionen

Christoph Marthaler macht in Zürich eine amtliche Uraufführung: „Synchron“ von Thomas Hürlimann ist eine Komödie über das Elend ungleichzeitiger Paarrede und anderer asynchroner Wiederholungen

Alles wurde schon einmal früher gesagt und dann mindestens noch einmal früher

von TOBI MÜLLER

Christoph Marthaler ist derjenige unter den A-Klasse-Regisseuren, der die wohl breiteste Kennerschaft im Theaterpublikum ermöglicht hat. Irgendwie demokratisch warm wird einem, wenn man nach zwei, drei Inszenierungen bereits zu jener Gilde gehören darf, die beim Verlassen des Theaters ins Extemporieren gerät. „Schon gut, ja, doch. Aber haben wir diesen nackten Po, das Gesumse und die Müdigkeit nicht schon letztes Jahr in Salzburg genau so gesehen, Schatzi?“ Oder in Berlin, Hamburg und seit anderthalb Jahren in Zürich, wo Marthaler jetzt Schauspielhaus-Chef ist. Der bohemistische Kenner nimmt jede Gelegenheit wahr, um dem Demokraten einen Vortrag zum Thema „Wiederholung und Differenz am Beispiel von Marthalers Ästhetik“ zu halten.

Nach „Synchron“ müssen solche Szenen konditionierter Deutung in sich zusammenbrechen. Erstens, weil Marthaler hier erstmals eine waschechte Uraufführung besorgt. Also keinen Horváth, Tschechow oder gar Shakespeare und auch kein Projekt. Der 52-jährige Thomas Hürlimann ist einer der letzten Schweizer Nationaldichter, gerade weil seine Heimat längst morsch geworden ist: als Bundesratssohn, als ehemaliger Student und Jungautor auf zehn Berliner „Wanderjahren“, unlängst als Lehrbeauftragter für szenisches Schreiben in Leipzig. So einer liefert keine Textmasse, die der Regisseur beliebig kneten darf. Zweitens ist hier alles anders, weil die Denkfigur der „Wiederholung und Differenz“ nicht einen theatralen Zugriff fassen möchte, sondern bereits mitten im Stück landet. Drittens: Das ist das Problem.

Was Hürlimanns Komödie im Titel als eine Sehnsucht nach Gleichzeitigkeit beschreibt, die nicht nur bei Paaren ständig scheitert, wird beim Powerpaar Marthaler und Hürlimann zur unheimlichen Realität. Die Regie geht tatsächlich sehr synchron zum Text – gleichzeitig wiederholend, wenn man will. „Synchron“ nimmt somit eine bedeutsame Wende hin zu „redundant“. Einiges an diesem Abend ist allerdings genau so gedoppelt gedacht, will es scheinen.

Denn der Komödiendichter Frunz in der Schreibkrise und seine Sibylle (ohne besondere Eigenschaften) arbeiten eben „beim Synchron“, in einem Synchronstudio, wo nur noch Pornos vertont werden. So geschieht es, dass die Paarrede der permanenten Ungleichzeitigkeit und des Verkennens zwischen Frunz und Sibylle mit der sprichwörtlich abgelutschtesten Sprache der Welt gekreuzt wird: „Schieb ihn ganz tief rein. O!“ Die Kreuzung legt Identität nahe: Die Sprache der Liebe gebiert bloß weitere hilflose Zitate, pornografische Projektionen, die das Nichts kaum zu überdecken vermögen. Deswegen wiederholt sie sich ja ständig. Deshalb geraten die Zeiten unterschiedslos durcheinander. Und auch die Orte. Anna Viebrocks Synchronstudio, das sich nach hinten exaxt spiegelt, muss nicht umgebaut werden, wenn man im Text von Wohnhäusern, Burgtheatern oder von Venedig spricht.

Robert Hunger-Bühler ist Frunz, der Dichter in Angestelltenlivree eines Hotels, vielleicht ein Chauffeur? Wenn er „Schreibkrise“ sagt, zieht der berühmte Schauspieler die Unterlippe zur Hasenfratze ein. Und die gefeierte Bibiana Beglau, eine sonst gefährlich hysterisierte Körperschauspielerin, gibt die Sibylle auf einmal im Schönsprech. Sie treffen sich in der Hochhauswohnung und erkennen einer nicht mehr. Nicht nur die Szene, auch die Ästhetik knüpft direkt an Hürlimanns „Das Lied der Heimat“ an, das Werner Düggelin am selben Theater vor vier Jahren inszeniert hat.

Nur: Sie machen einen Abgang, sie treten erneut auf und wiederholen den Dialog, und allmählich schlurft Sibylles Elternpaar herein. Die Zumpes (Siggi Schwientek und Nikola Weisse) bewegen, einmal mehr als umständlich am Tisch eingerichtet, ihre Lippen synchron zum Gesagten.

Alles wurde schon einmal früher gesagt, immer einmal früher, und dann mindestens noch einmal früher. Die Regiestimme im Synchron (Josef Ostendorfs geschmeidiger Bass) ist philosophisch angekränkelt, erklärt uns mit Heidegger, dass Existenz von ek-sistere kommt, von „hinausstehen in die Nacht des Nichts“. Später hegelt er: „Die Identität ist die Identität der Identität mit der Nicht-Identität.“ Stimmt! Und dazu fällt Hürlimann, Klosterschüler a. D., jede Menge höheren Blödsinns ein. So darf das Rampentier Thomas Wodianka als Truffaldino – eine Figur aus der Commedia dell'arte – einmal die Zumpes als junger Mann und gleichzeitig Frunz und Sibylle als Greis im selben venezianischen Restaurant bedienen. Und Synchronkollegin Elfi Glanz (Bettina Stucky) lässt sich deswegen von Frunz nächtens sexuell verhexen, weil dieser glaubt, an Sibylle seine Durft zu verrichten. Derweil kommt Ueli Jäggi in sehr, sehr engen Jeans als Elfis Gemahl Meier-Quassi nach Hause und wähnt sich wieder in Wettingen, wo er einst als Rilke-Rezitator glänzte. Am Ende wird dann noch etwas gestorben. Davor wird man aber das Gefühl nicht los, dass dem Marthaler dieser Text ein bisschen zu lebendig geraten ist. Er kapituliert, er geht synchron.