Ein Gesicht, nicht mehr

„Im toten Winkel“ vertraut ganz auf seine Protagonistin Traudl Junge, statt auf pädagogische Warnschilder oder genretypische Distanzformeln zu setzen. Und selten gab es eine Zeitzeugin, die so scharf und eloquent zugleich über ihr Verhalten im Nationalsozialismus nachgedacht hätte

Die Deutschen interessieren sich seit Jahrzehnten mit manischer Ausdauer für Hitlers Privatleben. Dutzende von Hitler-Titelbildern des Spiegel bezeugen dies, ebenso der Stern-Skandal um Hitlers Tagebücher und immer neue Enthüllungen in Hitler-Biografien. Man ist noch immer auf der Suche nach Hitlers Geheimnis, nach irgendetwas Unentdecktem, einer verborgenen Erklärung für die Katastrophe. Darin ist ein Versuch der Schuldentlastung versteckt: Die Deutschen wollen sich Hitler immer wieder als magischen, unergründlichen Verführer vor Augen führen. Sie suchen das Rätsel, um das Offenkundige nicht sehen zu müssen – dass Hitler nichts war außer der Sehnsucht der Deutschen, ihm zu folgen.

Der Dokumentarfilm „Im toten Winkel“ reflektiert diesen Wunsch und durchkreuzt ihn zugleich. Wir sehen und hören Traudl Junge, damals Hitlers Sekretärin. Man erfährt in Junges präziser Erzählung allerlei Details über Hitler privat: den fanatischen Vegetarier, der mit Erotik nichts Rechtes anzufangen wusste, den eher langweiligen älteren Herrn, der stolz ist, dass seine Schäferhündin Blondie jaulen kann wie Zarah Leander. Kein Geheimnis, nirgends, das Innere des Wahns ist kleinbürgerlich möbliert. Dann sieht man Junge, die sich auf dem TV-Schirm ihre eigenen Aussagen anschaut und selbstkritisch sagt: „Das ist doch alles zu banal.“

Traudl Junge wurde aus Zufall und Neugierde Hitlers Sekretärin. „Ich war ein kindisches, dummes Ding“, sagt sie. Nach 1945 trat sie in die SPD ein und arbeitete als Journalistin. Selten zuvor war im Kino eine deutsche Zeitzeugin zu sehen, die so scharf über sich selbst nachgedacht und geurteilt hat und diese Reflexion so eloquent zu formulieren versteht. Ein besonderes Leben. Und ein besonders typisches. Denn so kindisch, naiv und unpolitisch wie Junge waren Millionen Deutsche, die sich von Hitler faszinieren ließen. Und ebenso bitter über Hitlers Niederlage.

Als Junge schildert, dass Hitler sich im Führerbunker umbrachte, setzt ihr erstaunliches Erinnerungsvermögen für einen Moment aus. Die Erzählung stockt, eine Lücke klafft, fast wie bei einer Ohnmacht. Dann sagt Junge, dass sie damals „plötzlich einen Hass gegen Hitler empfand, weil der uns einfach im Stich gelassen hatte“. Das ist ein Schlüsselsatz des Films und der deutschen Psychogeschichte. Im Mai 1945 schlägt die unterwürfige Liebe zu Hitler in Hass um, der schweigendem Vergessen und rascher Identifikation mit den Siegermächten weicht, die gewissermaßen Hitlers verwaisten Platz als Autorität im deutschen Seelenhaushalt einnehmen.

„Die Unfähigkeit zu trauern“ hat Alexander Mitscherlich diesen Prozess genannt. Gemeint war der Unwille, um Hitler zu trauern, denn dies war die Grundlage der virtuosen deutschen Verdrängungskünste. All das schwingt in Junges Erzählung mit: Nach 1945 schockierte sie, wie viele, der Nürnberger Prozess, aber irgendwie wusste sie, wie viele, einfach nicht, was das mit ihr zu tun haben sollte. Dieses Bewusstsein wuchs später. So verdichten sich in dieser Biografie ein paar zentrale deutsche Gemütslagen: unpolitische Begeisterung für Hitler, der Hass auf ihn im Untergang, das Vergessen nach 1945 und schließlich die mühselige Wiedergewinnung der Fähigkeit zu trauern. Anschaulich, wenn auch ohne neue Fakten, sind Junges Schilderungen der letzten Wochen im Führerbunker. Als längst russische Granaten einschlugen, plauderte man beim Nachmittagstee. Zwei Tage vor dem Ende heiratete noch ein Küchenmädchen. Die SS feierte, alle warteten, niemand wusste worauf. Mit diesem Fiasko, einer entrückten Mixtur aus Alltag und Apokalypse, waren die Nazis endlich bei sich selbst und ihrem Ziel angelangt. Die totale Zerstörung, die den eigenen Untergang einschließt, war das zwingende Finale der todessehnsüchtigen NS-Ästhetik und der Naziideologie, in der Politik ewiger Krieg sein musste. Im Führerbunker im April 1945 kam der Faschismus zu sich selbst.

Die Regisseure, André Heller und Othmar Schmiderer, sind vor allem dafür zu loben, was sie nicht getan haben: nämlich den Blick auf diese Erzählung durch pädagogische Warnschilder, durch Bilder von Leichenbergen oder ähnliche genretypische Distanzfloskeln zu verstellen. Keine Musik, keine historischen Bilder, eineinhalb Stunden lang ein Gesicht. Mehr nicht. Eine reine, raue Form. Das ist in Infotainment-Zeiten so etwas wie ästhetischer Widerstand.

STEFAN REINECKE

„Im toten Winkel. Hitlers Sekretärin“. Regie: André Heller und Othmar Schmiderer. Mit Traudl Junge. Österreich 2002, 90 Min.