Die Lebensweisheiten des Hummerfischens

Hinter den versteinerten Gesichtern der Wunsch nach Vergeltung: In „In the Bedroom“ von Todd Field verliert ein Paar seinen Sohn durch ein schrecklich banales Gewaltverbrechen

„In the Bedroom“ ist ein ganz amerikanischer Film: Katharsis findet hier nicht statt

Man könnte es für geradezu klassisch halten, wie Todd Field seinen Film aufgebaut hat. Eine klare Dreiaktstruktur: die Ruhe vor dem Sturm, die Stille nach dem Schuss und eine krisenhafte Auflösung, die das Elend nur vergrößert.

Tatsächlich aber fehlt hier das Kernstück dessen, was nach europäischer Vorstellung eine Tragödie ausmacht. Katharsis findet in „In the Bedroom“ nicht statt. Ein Paar verliert seinen Sohn durch ein schrecklich banales Gewaltverbrechen. Doch es kann kaum trauern. Es sieht nur so aus.

Hinter den versteinerten Gesichtern keimen die Wut und der Wunsch nach Vergeltung. Nur in den USA kann so ein Film versehentlich in eine europäische Tradition gestellt werden. Weil er so still ist. Und so langsam. Aber es ist ein ganz und gar amerikanischer Film, erschreckend aktuell und erschreckend missverständlich.

Die Ruhe, das ist das gute Leben im Neuengland-Staat Maine. Matt Fowler (Tom Wilkinson) ist Doktor in einer kleinen Küstenstadt, seine Frau Ruth (Sissy Spacek) übt mit ihrem Kinderchor balkanische Gesänge. Mit seinem Sohn Frank entspannt sich Matt beim Hummerfischen. Dabei kann er ihm eine Menge über das Leben beibringen. Den Tank für die Hummer nennt man „Bedroom“. Sperrt man zwei Exemplare zu lange zusammen ein, zerfleischen sie sich gegenseitig. Trächtige Weibchen gehören zurück ins Meer.

Frank hat sich verliebt, auch wenn er nur von einem „summer thing“ spricht. Der Vater betrachtet die attraktive Eroberung mit neidischem Wohlwollen, die Mutter ist skeptisch. Denn Natalie (Marisa Tomei) ist nicht nur älter als Frank, sie hat auch zwei Kinder und hat sich gerade von einem Mann getrennt, der nach Ärger riecht. Diese Fakten werden beim sommerlichen Barbecue gesammelt und abends im Schlafzimmer gegeneinander abgewogen, um lange nach der Katastrophe ihre volle Sprengkraft zu entfalten.

Es sind zurückgehaltene Indizien in einem Prozess, den Matt und Ruth gegeneinander führen werden ohne Worte, ohne Verlesung der Anklage. Denn das ist ja die Gemeinheit des Verbrechens: dass es die Menschen nicht nur sprach- und machtlos zurücklässt, sondern sie auch noch gegeneinander einnimmt.

Liebe erfährt andere Bedingungen. Zur Trauer gehört der stumme Vorwurf an den anderen, nicht genug, nicht wirklich zu trauern.

Dass die Trauer bei Todd Field nun so unfassbar kalt aussieht, wirft Fragen auf. Vor allem hinter Sissy Spaceks sichtbar gealterten Augen scheint jedes Leben, jedes Mitgefühl zu erlöschen. Sie kann das. Sie war „Carrie, des Satans jüngste Tochter“. Aber ist das noch Trauer? Oder Wut über den Kontrollverlust? Und warum schenkt der Film der juristischen Aufarbeitung von Franks Tod, der Frage nach Mord oder Totschlag, so viel Beachtung?

Man kann nicht sagen, dass sich Field in seinem Debüt um eine klare Sprache bemüht hat. Wenn der sanfte Matt mit seinen Freunden Karten spielt wie früher, sagen die Bilder wenig. Der Körper ist die Sphinx der Seele. Im nächsten Moment spricht die Sphinx, und es ist wie ein Schock. Diese hysterischen Schocks sind in den zweieinhalb Stunden von „In the Bedroom“ sehr rar gesät. Sie bestimmen darüber, worum es hier eigentlich geht: nicht um die edle schicksalhafte Trauer, sondern um deren zerstörerische Kraft.

Im letzten Akt werden die Rollen von Gut und Böse noch einmal neu verteilt. Aber auch hier gilt: Wer in der falschen Sekunde auf die Uhr schaut, hat am Ende den Film nicht kapiert.

Die latente Gewaltsamkeit dieses stillen Films wirft ein fahles Licht hinter die Fassade amerikanischer Liberalität. Ruths spießiger Argwohn gegen die unterklassige Natalie ist ein erster Hinweis.

Die weitere Entwicklung verschlüsselt das Rachebedürfnis dieser Gesellschaft. Man hat ja schon fast vergessen, dass auch in dieser Independent-Produktion Menschen wie selbstverständlich nur durch Schusswaffen sterben. Und nicht etwa durch einen Unfall. So ist es auch sinnlos, Vergleiche zu ziehen mit sensiblen Trauerfilmen wie Nanni Morettis „Das Zimmer meines Sohnes“ oder Atom Egoyans „Das süße Jenseits“.

Die Academy, die den unerwarteten Hit mit fünf Oscar-Nominierungen bedachte, mag ihre neue Liebe zum intelligenten Kino für eine nette Geste halten. Aber Todd Fields Tragödie ist mehr Macbeth als Hamlet. Man kann die Amerikaner nach diesem Film ein bisschen besser verstehen – und sich noch etwas mehr vor ihnen fürchten.

PHILIPP BÜHLER

„In the Bedroom“. Regie: Todd Field. Mit Tom Wilkinson, Sissy Spacek, Nick Stahl, Marisa Tomei u. a., USA 2001. 135 Min.