Ich wäre selber gern der Chef

Jucélia Brandão hat einen Traum. Sie wünscht sich ein bisschen Privatsphäre – und die wird sie vermutlich nie bekommen. Denn sie arbeitet in Rio de Janeiro als Dienstmädchen

von EVA-MARIA SCHREINER (Text) und ANJA HÖLPER (Fotos)

Die Lady pfeift, das Mädchen spurt: Jucélia trocknet sich die Hände an der Uniformschürze ab und beginnt ein schweres Silbertablett zu beladen. Im Salon, wo Jalousien die Tropensonne abschirmen, rückt das Dienstmädchen ihrer Patroa einen Teller Gebäck in Reichweite – ihre Chefin hat mal wieder nach einem Cafézinho verlangt. Den heißen, zuckersüßen Mokka trinkt man in Rio de Janeiro bis zu fünfmal am Tag.

„Wo bleibt mein Orangensaft?“ – „Die Eiswürfel, Jucélia!“ – „Hast du das Huhn schon im Rohr?“, hallt es von morgens bis abends. „Ich halte diesen Ton nicht mehr aus. So geht das seit fünfzehn Jahren“, seufzt die lebhafte Mulattin. Die 36-Jährige ist Hausmädchen bei der siebzigjährigen ehemaligen Konzertpianistin Maria Augusta Morgenroth.

Sie leben in einer 240-Quadratmeter-Wohnung an der Copacabana, nicht weit vom Strand. Doch Jucélia fühlt sich in dem luxuriösen Ambiente unterdrückt, weil sie ihr Leben lang arm sein wird. In der Gewerkschaft der Dienstmädchen von Rio de Janeiro kann sie über ihre Probleme reden – und sich für fairere Arbeitsbedingungen einsetzen.

Denn Dienstboten werden in Brasilien fast noch als Privatbesitz betrachtet. Und die sklavenmäßige Ausbeutung von Minderjährigen gehört immer noch zum Alltag. 380.000 Mädchen unter sechzehn Jahren arbeiten nur gegen Kost und Logis, ermittelte die Gewerkschaft. Aus den kinderreichen Familien im armen Nordosten Brasiliens holen sich reiche Familien aus Rio de Janeiro auch zehnjährige Putzhilfen ins Haus. Die wenigsten Mädchen gehen in der Großstadt weiter zur Schule. Die Alternative zum Dienstmädchendasein heißt damit Prostitution.

Jucélias Vater gab sie zwar erst als Volljährige in die Fänge der Lady an der Copacabana. Doch bei Maria Augusta fühlt sich Jucélia in einem goldenen Käfig, auch wenn sie in der Küche freie Hand hat. Sie schreibt der Witwe eines Tabakexporteurs den Speiseplan, kauft ein und kocht täglich mehrere Gänge. Für ihre Madame ist sie auch der Mann im Haus, kümmert sich um Technisches und die anfallenden Reparaturen: „Jucélia, leg mir mal das Videoband ein!“ – „Hast du gesehen, der Wasserhahn in meinem Badezimmer tropft.“ Solche Andeutungen sind als Anweisungen zu verstehen.

In Brasilien leben wohlhabende Hausfrauen wie Prinzessinnen: Dienstboten gehören ab der unteren Mittelschicht selbstverständlich dazu. Ein Relikt aus dreihundert Jahren Sklaverei. Für ein Gehalt zwischen neunzig und 250 Euro lebt das Dienstmädchen oft jahrzehntelang eng an die Familie gekettet im Hause mit.

Die Dienstmädchen von Rio sind meist Schwarze aus der ärmsten Bevölkerungsschicht. Von einem Achtstundentag können sie nur träumen. Wenn nach Mitternacht der Abwasch ruft und am Wochenende Gäste kommen, gibt es kein Entrinnen. Denn Dienstmädchen in Brasilien stehen auf Abruf bereit. Fast immer schlafen sie in winzigen Dienstmädchenkammern neben der Waschküche. Die Architekten planen die fast fensterlosen Zellen beim Bau neuer Häuser immer noch serienmäßig ein.

Über fünf Millionen Brasilianerinnen verdienen ihr Geld als Putz- und Bügelfrau, Kindermädchen und Köchin. Ein großer Teil arbeitet zwanzig oder dreißig Jahre lang ohne Vertrag. Dienstmädchen, denen plötzlich gekündigt wird, stehen dann ohne Ansprüche da und kriegen keine Rente. Jucélia ist eine der wenigen, die Gerechtigkeit verlangt.

„Es war mir lange peinlich, ein Dienstmädchen zu sein“, sagt Jucélia. Doch seitdem sie zum Dienstmädchentreff geht, den die Kirche im Viertel anbietet, bekennt sie sich zu ihrem Beruf. Über den christlichen Kreis stieß sie zu den zweihundert Aktivistinnen der Dienstmädchengewerkschaft von Rio de Janeiro. Sie treffen sich immer sonntags im Hauptquartier der Gewerkschaft – im renovierungsbedürftigen Hof werden Neuigkeiten besprochen und Probleme debattiert.

„Was? Vera ist entlassen worden, weil ihre Chefin eifersüchtig auf sie war?“ – „Wie bitte, schon wieder ein Fall von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz?“ – „Die Silvia bekommt immer noch keinen Arbeitsvertrag? Dann machen wir jetzt Druck.“ So klingt es, wenn die Dienstmädchen zusammensitzen.

Die Forderungen der Putzfrauen aus Rio de Janeiro: „Wir wollen endlich einen Lohn, der es uns erlaubt, woanders ein Zimmer zu mieten, um nicht so an unsere Arbeitgeber gekettet zu sein“, sagt Jucélia. Das zweite Ziel: die Hausangestellten zu ermutigen, vor Gericht gegen Chauvinisten und Vergewaltiger am Arbeitsplatz vorzugehen. Ein verbreitetes Problem: Denn mit dem Hausmädchen oder einer Prostituierten hatten brasilianische Männer bis in die Sechzigerjahre normalerweise den ersten sexuellen Kontakt.

Jucélia war neunzehn, als ihr Vater, Viehtreiber auf einer Fazenda, die lebhafteste seiner fünf Töchter der Farmbesitzerin Maria Augusta in das zweitausend Kilometer entfernte Rio de Janeiro mitgab. Doch in der Metropole fiel die Rose aus der Provinz in Depression. Überfordert von der Verantwortung für ein lebenshungriges junges Ding, sperrte Maria Augusta ihre Jucélia eineinhalb Jahre in der Wohnung ein. „Ich durfte nirgendwohin, außer in den Supermarkt“, sagt Jucélia bitter. „Ich musste über ihre Jungfräulichkeit wachen, das hatte ich ihrem Vater versprochen“, verteidigt sich Maria Augusta.

Vier Jahre später schrieb sich Jucélia heimlich für eine Abendschule ein und holte sieben Schuljahre nach: „Unter Protesten meiner Chefin, die sich allein gelassen vorkam.“ Es folgten ein Computerkurs, Englisch- und Gitarrenunterricht. Als sie einer Theatercrew beitrat, lernte sie Dienstmädchen aus der Gewerkschaft kennen: abgeklärte Frauen um die fünfzig, die sie weitsichtig ermahnten: „Halte dein Geld zusammen. Mach ein Sparkonto auf. Wo du jetzt lebst, das ist nicht dein Zuhause für immer.“

Von Gemälden und Konzertplakaten blickt die Hausherrin wie ein Diktator auf ihr Dienstmädchen beim Staubwischen herab. „Hier kann nicht mein Zuhause sein“, hat Jucélia inzwischen eingesehen.

Jucélia pflegt das Klavier, doch sie wäre entlassen, würde sie je darauf klimpern. Auch am feudalen Esstisch und auf dem cremefarbenen Sofa wird Jucélia nie Platz nehmen dürfen, und wenn sie noch zwanzig Jahre für das Wohl der gealterten Musikerin sorgt. Trotzdem findet sie, dass sie meist gut behandelt wird: „Andere haben es viel schlechter.“

Eine Kammer im Dienstmädchentrakt, noch hinter Küche und Waschküche, ist Jucélias Reich. „Sie hat die Suite“, kommentiert das ihre Arbeitgeberin. Jucélias Empregada-Zimmer ist mit Videorekorder, CD-Player und Telefon bestückt, alles von ihrem mageren 190-Euro-Lohn zusammengespart.

Abends sitzt Jucélia in Shorts auf ihrem Bett, zupft melancholisch an der Gitarre und schaut nebenbei etwas fern. Dabei träumt sie von etwas Privatsphäre, das Kostbarste für sie: „Ich wünsche mir eine Wohnung, in die ich meine Freundinnen einladen könnte“, sagt Jucélia. „Darauf haben nicht nur Reiche ein Recht.“

EVA-MARIA SCHREINER, 35, ist in Brasilien aufgewachsen und lebt heute als freie Journalistin in München