Eine schrecklich normale Familie

Die Eltern des Erfurter Amokschützen beschreiben, wie sie den Draht zum Sohn verloren. „Es ging immer ums Schießen“

BERLIN taz ■ Heute geht der Reigen der vermeintlichen Sofortmaßnahmen nach dem Amoklauf im Erfurter Gymnasium weiter: Bundeskanzler und Ministerpräsidenten wollen über eine Verschärfung der Waffengesetze sowie eine Eindämmung von Gewaltspielen und -videos beraten. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) mischt sich in die Bildungspolitik der Länder ein. Es dürfe nicht sein, sagte sie, „dass – wie in Thüringen – ein Schüler nach zwölf Jahren Schule nicht einmal einen Hauptschulabschluss hat“.

Gleichzeitig erlauben Recherchen und Interviews des Spiegel mit der Familie Steinhäuser Einblick in die Verhältnisse des Amokläufers: Der zunächst wohl behütete Junge wuchs demnach in einer schrecklich normalen Familie auf. Die Eltern merkten, wie sie allmählich den Kontakt zu ihrem Sohn verloren. Zu ändern vermochten sie es nicht.

Der ungewöhnlich brutal agierende Todesschütze des Gutenberg-Gymnasiums war der zweitgeborene Sohn der Steinhäusers – und eine Art Hätschelkind. Der Junge, sagt seine Mutter, „war ein ganz anhängliches Kind. Er musste beschützt werden, damit er seinem Bruder nicht ständig unterlegen war.“

Der 19-Jährige lebte zuletzt in einem bizarren Nebeneinander von Welten. Er war der brave Junge, der seiner Katze Susi überpünktlich den Futternapf füllte und der Mutter freundlich jeden Gefallen tat, um den sie ihn bat.

Robert Steinhäuser war aber auch ein Video- und Internet-Maniac, der sich nächtelang Killervideos und mörderische Jagdspiele reinzog. Die Eltern bemerkten das. „Es ging immer ums Schießen, es ging immer um Gewalt“, sagt der Vater.

Ändern konnte er freilich nichts daran. Nicht durch eine selbst angebrachte Bezahlvorrichtung am heimischen Fernsehgerät; nicht durch Herausreißen aller Kabel; nicht durch zeitweises Überlassen einer eigenen Wohnung, in der Steinhäuser und seine Clique so genannte Netzwerkpartys organisierten. „Es ging Tag und Nacht wieder nur ums Schießen“, sagt der Vater, „da habe ich sie rausgeschmissen.“

Das Gespräch zwischen den Steinhäusers und ihrem Sohn muss auf ein absolutes Minimalmaß zusammengeschrumpft sein. Sie wussten praktisch nichts mehr von dem, was in ihrem Jungen vorging. Ähnlich war es auch in der Clique des späteren Amokschützen. „Es ist erschreckend, wir wussten von Robert nahezu nichts“, sagte einer der Freunde über ihn.

Den Eltern fiel auch nicht auf, dass ihr Sohn bereits seit Oktober vergangenen Jahres das Gymnasium nicht mehr besuchte, das er am Schluss nur mehr als Demütigung empfand. Am Morgen des Tattages weckte die Mutter ihren Sohn in der Annahme, er gehe sein Abitur schreiben. Der Vater sagte: „Jetzt geht’s um die Wurst, streng dich an!“ Der Sohn ging – und kam kurz danach zurück, angeblich um vergessene Stifte zu holen. Steinhäuser hatte seinen Eltern zuvor ein – wie man heute weiß – gefälschtes Zwischenzeugnis überreicht. „Es war für uns eine Freude, es war für seine Verhältnisse gut“, sagt die Mutter darüber.

Steinhäuser hatte sich im Oktober 2000, also während der Zeit, als seine schulischen Probleme offenkundig waren, in einem Schützenverein angemeldet. Seine ersten Übungsstunden am Schießstand verbrachte er mit einem Oberkommissar, der auch die Auswahlmannschaft der thüringischen Polizei trainierte. Im Oktober 2001, zeitgleich zu seinem endgültigen Rauswurf vom Gymnasium, erwarb er eine Pistole und eine Pumpgun. Sein ehemaliger Schießwart zollt Steinhäusers Leistungen im Nachhinein Anerkennung: „Zum Schluss hat er ziemlich gut geschossen, auf 25 Metern dicht am Schwarzen.“

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