Das Wunder aus der Vorstadt

Eine Art Unfall: Mike Skinner alias The Streets wird in England als Popsensation des Jahres gehandelt. Ein Beispiel dafür, wie ein Werk über seinen Autor hinauswachsen kann – so wie bei Thomas Mann

Du willst deine Liebe zurück? Du willst einen besseren Job? Das ist das Leben!

von CORNELIUS TITTEL

Mike Skinner alias The Streets scheint tatsächlich einen Fick zu geben: auf Warner Music, seinen Ruf und auf Thomas Mann, und das in keiner bestimmten Reihenfolge. Da sitzt er nun – 178 Zentimeter müde lächelnde Postpubertät – im Büro seiner Plattenfirma und muss sich der devoten Fachpresse erklären. Wie ausgerechnet er diesen vor Soul und Weisheit schier berstenden 2Step-HipHop-Bastard kreieren konnte. Wie es sich nun anfühlt, als größte Popsensation des Jahres rumgereicht zu werden. Vor allem aber: ob sein Debüt nun das beste britische Club-Album seit Soul II Soul’s „Club Classics Vol.1“, Massive Attacks „Blue Lines“ oder doch „nur“ seit der ersten Basement Jaxx ist.

Fragen über Fragen, auf die dem 22-Jährigen nach über hundert Interviews kaum noch Antworten einfallen wollen. Und so erzählt er lieber, dass nun, wo die Zeichen unabwendbar auf Hype stünden, vor allem eines oberste Priorität genieße: einen klaren Kopf zu behalten und das eigene Label nach Strich und Faden abzuziehen, sprich: noch das letzte Pfund aus den Herren Managern rauszupressen. Schließlich seien die drauf und dran, kraft seines Talentes immens reich zu werden. Dass seine eigene Aufforderung, „Original Pirate Material“ am PC zu vervielfältigen – „und dann bringst du einfach die CD in den Laden zurück. Mache ich auch immer so“ –, sein ehrgeiziges Anliegen gefährden könnte, kommt ihm nicht den Sinn.

Eher schon eine Parallele zu „this german geezer“ Thomas Mann. Nicht, dass er den gelesen hätte. Und doch ist ihm irgendwie zu Ohren gekommen, dass Mann, wie so viele große Künstler, im Privatleben ein Loser gewesen sei. Ein ganz normales Arschloch eben, einer wie du und ich. Laut Skinner nur ein Beispiel dafür, dass ein Werk wesentlich größer sein könne als sein Autor.

„Original Pirate Material“ ist so ein Werk, und Skinner würde dies nie bestreiten. Als die ersten Kopien des Albums Anfang des Jahres die Runde machten, schien dann auch niemand glauben zu können, ein bis dato nicht auffällig gewordener 22-Jähriger könne allein für diesen Wurf verantwortlich zeichnen. Einer mit Milchgesicht und Hautproblemen, der ersten Berichten zufolge nicht mal aus London stammte und mit seiner Vorliebe für Lager, Umbro-Pullover und Pub-Prügeleien ganz und gar dem Klischee des englischen Vorstadtjugendlichen entsprach. Eine ganz und gar unglamouröse Gestalt, die selbst auf dem Cover des NME noch aussah wie ein leicht geschmackloser Klassenclown, der in der letzten Reihe seine Fürze anzündet.

Um im Bild zu bleiben: Skinner gibt einen Feuchten. Ob er Reportern erzählt, viel lieber Crack als Kokain zu konsumieren, oder fast schon höflich Charlotte Roches „Fast Forward“-Studio demoliert, nie wirkt es so, als wolle er seinem Ruf gerecht werden, der britische Eminem zu sein. Es ist einfach das, was ein Typ wie Skinner so erzählt, wenn er gerade nicht Playstation spielt und Gras raucht: ein Unfall eben, der zu bestem Entertainment wird.

„Auch mein Album ist ein einziger Unfall“, gesteht er ein. Er macht eine Pause und fügt hinzu: „Mein nächstes wird ein noch größerer sein.“ Und tatsächlich: Nichts auf „Original Pirate Material“ wirkt kalkuliert. Einige Samples sind derart schlampig editiert, dass ihm etablierte UK-Garage-Kollegen voller Missgunst vorwerfen, nicht mal sein Handwerk zu verstehen. Andere Neider mokieren sich über seinen Rap-Stil und verkennen dabei, dass Skinner gar nicht erst versucht, US-amerikanischen Vorbildern nachzueifern. Wenn der Beat funktioniert und die Geschichte auf den Punkt gebracht ist, dann hat Skinner sein Ziel erreicht. Wozu noch ins Detail gehen, wenn Skinner auch ohne allzu elaborierte Reime mehr Pointen und treffende Beobachtungen in einen Track packt als die meisten Platin-Rapper auf ein ganzes Album?

Einzig die Kritik, sein Projektname The Streets würde vorsätzlich Großstadt-Ghetto-Assoziationen hervorrufen – wo er selbst doch das Inbild des Vorstadt-Lads sei –, lässt er gelten. „Es stimmt: Die Straßen, von denen ich rede, sind nicht die Straßen der So Solid Crew. Ich rede von Orten, an denen du so weit draußen bist, dass du einen Bus zum nächsten Bahnhof nehmen musst, aber trotzdem ständig Angst hast, gleich von irgendwem aufs Maul zu bekommen. Ich kann verstehen, dass sich einige wirklich harte Inner-City-Jungs darüber lustig machen, dass sich ausgerechnet einer wie ich The Streets nennt. The Roads wäre treffender gewesen, hätte aber scheiße geklungen.“

Skinners Geschichten spielen eher in verranzten Kebab-Shops als in den UK-Garage-Clubs der großen Städte, und wenn er einen „day in a life of a geezer“ beschreibt, wird niemand, der je zwischen C64ern, Selbstangebautem und seiner Stereoanlage in ein Zeitloch fiel, bestreiten können, etwas anderes als die ganze, ungeschminkte Wahrheit zu vernehmen. „Ich spreche über mein Leben, und es kommt mir entgegen, dass tausende ähnlich leben, die gleichen Probleme kennen. Du willst das Mädchen, dass du liebst, zurück? Du willst einen besseren Job? Dir wird klar, dass du weniger Brandy trinken solltest, dass die Pillen auch nicht mehr das sind, was sie mal waren? Das ist das Leben! Und nur weil ich einen Plattenvertrag habe, heißt es nicht, dass alles einfacher würde.“

Skinners erzählerisches Ausnahmetalent ermöglicht es ihm, auch in den dunkelsten Momenten die glücklichsten Hörer zu fesseln : „If you’re ain’t feelin’ it, just be thankful that everything is cool in your world“, heißt es am Ende von „Stay Positive“, dem letzten Stück des Albums. Ein Album, das trotz allen Spaßes in keiner Sekunde zu leugnen versucht, dass mitnichten alles „cool“ ist in seiner und unserer Welt. Dass die Kids weit davon entfernt sind, einfach nur „allright“ zu sein. Und so liegt der NME gar nicht falsch, Mike Skinner als authentische Stimme einer neuen „suburban generation“ aufs Podest zu heben, ihn als Wiedergänger Paul Wellers zu feiern, der vor 25 Jahren seiner Generation nicht weniger aus dem Herzen sprach als Skinner der seinen. Wenn das letzte Konsolenspiel gezockt ist und die letzte Pirate-Station abgestellt, heißt es immer noch: „be brave, clinch fists“. Mit dem entscheidenen Zusatz: „you’re listening to the streets“.

The Streets: „Original Pirate Material“ (WEA)