Die Schule des Scheiterns

Versagen ist in der deutschen Schule kein Betriebsunfall – es gehört zum Alltag. 40 Prozent der Schüler erleben einen größeren Misserfolg. Sitzenbleiben und Absteigen heißen die Disziplinen, in denen die deutschen Schüler führend in der Welt sind

„Wir sind nicht sensibel genug im Umgang mit Versagern.“

von CHRISTIAN FÜLLER

Ausgerechnet am Ende der Vierten. Andreas Schleicher wollte unbedingt aufs Gymnasium. Aber dann kam er ins Straucheln. In der vierten Grundschulklasse sackten seine Leistungen ab. Und es war keinesfalls klar, ob er die Versetzung ins Gymnasium überhaupt schaffen würde. Bange Momente für den Hamburger Schüler Schleicher. Das war vor 27 Jahren.

Heute ist Andreas Schleicher derjenige, der seine negative Schulerfahrung gewissermaßen aus objektiver Sicht beurteilen kann. Schleicher ist der Pisa-Chef der OECD, jener Organisation also, die in dem internationalen Vergleichstest die Schulleistungen von 32 Staaten unter die Lupe genommen hat. Was das Schulversagen anlangt, lässt sich aus Pisa ein frappierendes Ergebnis herauslesen – da ist Deutschland Spitze. Vier von zehn deutschen 15-Jährigen haben bereits einen gravierenden Misserfolg in der Schule hinter sich. Das haben die deutschen Pisa-Forscher herausgefunden. Beim Sitzenbleiben, Herabstufen und Zurückstellen befindet sich Deutschland in einer illustren Runde. Brasilien und Mexiko etwa, beide unter den Pisa-Schlusslichtern, haben ähnliche Versagerquoten. Aber auch Österreich, das ordentlich abgeschnitten hat, lässt seine Schüler häufig und intensiv scheitern.

Nach dem Amoklauf von Erfurt bekommt die Sitzenbleiber-Misere neue Aufmerksamkeit. Denn neben anderen Ursachen zählt inzwischen auch dieses Motiv zu dem Mosaik von auslösenden Faktoren: Den Täter hat seine schulische Erfolglosigkeit gequält. Robert Steinhäuser nahm zweimal vergeblich Anlauf zum Abitur. Schließlich wurde er vom Gymnasium verwiesen – ohne Schulabschluss. In seinem Schulhaus erschoss er Monate später gezielt Lehrer.

Renommierte Schulforscher wie der Bielefelder Pädagogikprofessor Klaus-Jürgen Tillmann wollen keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Scheitern des Schülers Steinhäuser und seiner Tat herstellen. Gleichwohl merken sie an, dass Durchfallen, Aussortieren und Herabstufen Wesensmerkmale der deutschen Schule sind. „Das einschneidende Schulversagenserlebnis, das 40 Prozent der Schüler erleben, ist institutionell definiert“, sagt Tillmann.

Auslese und Scheitern gehören zur deutschen Schule wie das Pult zum Klassenzimmer. Das auf Begabungen fußende Bildungskonzept sieht vor, nur die Besten aufs Gymnasium zu schicken. Dafür muss ein Konkurrenzsystem mit Noten und Sitzenbleiben errichtet werden – und Auffangschulen. Wer aber zu messen beginnt, wer für die Oberschule geeignet ist, produziert auch Verlierer. Dazu rechnen die Pisa-Forscher Sonderschüler (3,5 Prozent der Befragten), bei der Einschulung zurückgestellte Schüler (10 Prozent), Sitzenbleiber (24 Prozent) und Schulabsteiger (rund 10 Prozent). Für die Betroffenen sind diese Erlebnisse, sagt Tillman, „fast immer mit massiven Identitätsproblemen verbunden“.

„Misserfolgserlebnisse sind prinzipiell schwer zu verarbeiten“, berichtet auch Gundel Schümer. Die Wissenschaftlerin am Berliner Max-Planck-Insititut für Bildungsforschung verweist aber darauf, dass die Konsequenzen des Scheiterns durchaus widersprüchlich sind. Sonderschüler etwa fühlen sich in ihrer neuen Schule zunächst wohler. Aber sie merken auch sehr genau, dass sie sich nun auf einer Schule ohne jedes soziale Prestige befinden. „Sie fühlen sich diskriminiert“, erzählt Schümer, „wenn man sie danach fragt, was sie sich zum Geburtstag wünschen, sagen sie: ‚Eine andere Schule.‘“ Ein Wunsch, der hierzulande unerfüllbar scheint – anderswo schon. Viele Länder kennen den Terminus „Lernbehinderungen“ gar nicht. In Schweden etwa, das bei Pisa gut abgeschnitten hat, gibt es nicht einmal Sonderschulen. In Norwegen besuchen sogar Kinder mit Trisomie 21 die normale Schule.

Bei den aus Gymnasium oder Realschule ausgesonderten Schülern beobachtet Schümer mehr Positives. Absteiger blühten, wenn sie von dem Druck und den ihnen fremden Anforderungen befreit sind, in der neuen Schule auf.

Ganz anders ist es mit dem Wiederholen einer Klasse. „Sitzenbleiben bringt in der Regel nichts.“ Aus ihren Erfahrungen weiß die Pisa-Forscherin: „Wenn sie ein Kind haben, das sich aufgegeben hat, dann weiß es oft auch in der Wiederholungsklasse wenig mit sich anzufangen – dann obendrein ohne Freunde.“

Das Scheitern in der Schule hat nicht allein psychologische Effekte. Es verlängert für jährlich fast eine halbe Million Sitzenbleiber und Ausgesonderte in Deutschland die Schulzeit. 16 Prozent der hiesigen Schüler sind mit 15 Jahren erst in der 8. Klasse oder darunter. Das bedeutet, sie haben zwei Jahre auf Finnen und Schweden verloren.

Ein Überdenken der Durchfaller-Regelung ist dennoch ein deutsches Tabu. Die Wirtschaftsverbände etwa, die übermorgen wieder eine Beschleunigung der Schulzeit fordern werden, lehnen ein Abschaffen des Sitzenbleibens kategorisch ab – weil das ein Rückfall in die Kuschelpädagogik sei.

Die Wissenschaftler allerdings finden, dass es an der Zeit ist, die Schule des Scheiterns von ihrem Makel zu befreien – und mit Leistungsmisserfolgen von Schülern anders umzugehen. „Wir sind nicht sensibel genug im Umgang mit Versagern“, findet der Bielefelder Professor Tillmann. Es brauche geeignete Formen des Unterrichts und der Betreuung, „um Misserfolge zu heilen“.

Die Max-Planck-Wissenschaftlerin Schümer richtet ihr Augenmerk dabei auf die Didaktik. „Über Frontalunterricht“, betont sie, „lässt sich das Problem demotivierter Sitzenbleiber nicht lösen.“ Sie meint damit, dass Lehrer hierzulande häufig als Stoffvermittler gesehen werden, die den Schülern vom Pult aus portioniertes Wissen verabreichen. Heute gebe es aber bereits vielerlei Methoden, Schüler aktiver in den Unterricht einzubeziehen – Projektunterricht, Teamlernen oder die so genannten Wochenpläne. Bei ihnen werden die Schüler dazu angehalten, selbst zu bestimmen, wie und wann sie ihre Lernziele erreichen. Die Forscherin Schümer, die gerade mit ihren Kollegen den innerdeutschen Pisa-Ländervergleich fertig stellt, sieht freilich auch die Grenzen einer anderen Didaktik – die Mechanismen des Schulsystems. „Die Möglichkeit, jemanden auszugrenzen, schränkt die didaktische Fantasie ein“, sagt sie. „Denn dann muss sich der Lehrer ja nicht mehr mit dem Schüler befassen.“

In der pädagogischen Science Community breitet sich indes seit der Veröffentlichung der Pisa-Studie ein Unbehagen aus. Das dreigliedrige Schulsystem von heute auf morgen zu ändern – das scheint unmöglich. Daher haben sich viele Wissenschaftler auf ein anderes Thema kapriziert: die ebenfalls diagnostizierte schlechte Unterrichtsqualität. Nun erkennen die Forscher zusehends, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. „In Deutschland bemüht man sich um Lerngruppen mit möglichst homogenen Lernvoraussetzungen“, sagt Gundel Schümer dazu ganz nüchtern, „dies geschieht weniger über die Förderung schwacher Schüler als über ihre Ausgrenzung.“

Der Blick schweift dann in Länder, die nicht nach Gut und Schlecht sortieren, die erst viel später Zensuren erteilen, die bis zur neunten Klasse niemanden zum Versager stempeln – und die trotzdem gute und auffallend lernzufriedene Schüler haben. Anders hierzulande. Der Ausweg aus dem engen Korsett von Schulformen, Noten und Versagerproduktion fällt nicht leicht. Er besteht selten aus einer umso famoseren didaktischen Gestaltung des Unterrichts, sondern wird oft auch bürokratisch betrieben.

In Thüringen etwa gibt es die Regel, dass an Gymnasien nur das Abitur erworben werden kann. Das soll verhindern, dass einzelne Schulformen ausbluten – etwa durch die Flucht von Real- und Hauptschülern auf die Gymnasien. Klaus-Jürgen Tillmann wäre der letzte, der das mit der Erfurter Bluttat in Verbindung bringen wollte. Aber makaber findet Tillmann es schon, dass die merkwürdige Thüringer Abschlussregelung auf so grausame Weise ins Licht der Öffentlichkeit gerät. Denn eins ist auch für Tillmann klar: „Die Abschlussregelung Thüringens offenbart ein Maß an Missachtung von Schülerinteressen, das kaum mehr zu überbieten ist.“

Andreas Schleicher übrigens, der den Sprung aufs Gymnasium beinahe verpasst hätte, hat später eine umso steilere Schul- und Studienkarriere genommen. Heute sagt der Pisa-Chef, die eigene Situation und die Daten seiner Erhebung im Blick: „Lernende und Lernen sollten im Mittelpunkt eines Schulsystems stehen und nicht das Einsortieren der Schüler.“