zwischen den rillen
: Märchen aus dem Trümmerland: Tom Waits, doppelt

Bei Reval-Rauchers unterm Sofa

Schon von der Verpackung blickt einen der altbekannte Madman an. Die ersten Klänge sind die ausgewiesen schleppenden Rhythmen und dumpfen Töne, die von Instrumenten stammen, deren Namen man noch nie gehört hat. Und dann setzt dieser wüste, wie ausgekotzte Gesang ein, der zu stammen scheint von einer in der Nachkriegszeit schwer gebeutelten Trümmerfrau: Nenn keinen Menschen glücklich, solange er nicht tot ist, singt Tom Waits, und wenn man schon etwas über die Menschheit sagen müsse, dann ja wohl, dass der Homo sapiens an sich kein netter Zeitgenosse ist.

Das geht ja gut los auf „Blood Money“. Und es geht so weiter auf „Alice“, denn Waits wirft nach drei Jahren Pause zeitgleich zwei neue Alben auf den Markt. Beide sind als Auftragsarbeiten für Inszenierungen von Robert Wilson entstanden. Die Songs für „Blood Money“ schrieben Waits und seine Ehefrau Kathleen Brennan für die zwei Jahre alte Kopenhagener Inszenierung von „Woyzeck“. Erst im vergangenen Jahr aufgenommen, allerdings bereits 1992 komponiert wurde „Alice“ für die gleichnamige, am Hamburger Thalia-Theater aufgeführte Wilson-Oper um den „Alice im Wunderland“-Autor Lewis Carroll. Vor allem auf „Blood Money“ geht’s erwartbar zu: wie bei Reval-Rauchers unterm Sofa eben. Waits stöhnt und ächzt und rotiert wie besessen um die Abgründe der menschlichen Seele, während seine Begleitband aus handverlesenen Studiomuckern ganz konzentriert so tut, als würden die genialen Dilettanten die Marschmusik ins Museum tragen. „Alice“ ist etwas sinfonischer, musikalisch milder und vorsichtig abwechslungsreicher, bedient sich bei wohltemperiertem Jazz, zitiert zwar Vaudeville und Weill, aber richtig theaterhaft wirkt keins der beiden Alben. Andererseits arrangiert Waits noch die abgeschmacktesten musikalischen Klischees mit solcher Stilsicherheit, dass sie, wenn schon nicht glaubhaft, dann doch zumindest wie eine ehrlich plakative Theaterkulisse wirken.

Vor der hat mal wieder Waits’ bekannt tiefer gelegte Stimme ihren großen Auftritt. Keine sonst zieht einen so runter und umfängt einen zugleich so herzlich, keine kratzt einem so fies in den Eingeweiden und zieht einem dann doch wie eine Mutter ganz kuschelig die dicke Decke bis zum Kinn hoch. Denn längst hat Waits seine alte Rolle als Beatnik-Nervensäge, die dem Barmann ohne Unterlass skurrile Anekdoten erzählt, vertauscht mit der des milde gestimmten Märchenonkels. Nur manchmal noch kommt der alte Waits durch und dann erschreckt er die Kleinen mit Geschichten aus der Hölle, vom Verhungern im Bauch eines Wales oder singt ihnen gleich ein „Lullaby“, ein Schlaflied: „Daddy’s never coming back/ Nothing’s ever yours to keep/ Close your eyes, go to sleep“.

Früher hieß es „Smelling like a brewery, lookin’ like a tramp“, heute lebt Waits schon seit mehr als zwei Jahrzehnten brav mit Koautorin Brennan zusammen, trägt dunklen, edlen Zwirn und reimt: „The rain makes such a lovely sound/ To those who are six feet under the ground“. Zwar füllt er die Klischees weiter aus, begibt sich widerspruchslos in seine Rolle als Faktotum, Waldschrat, Kauz und Reibeisenstimme, aber alle Authentizitätsansprüche hat er lange schon aufgegeben und stattdessen diese Zerrbilder zum vermarktbaren Image geformt. Die Marke „Waits“ ist stets wiederzuerkennen und hat Interpretationen auf Kölsch und Plattdeutsch, Flämisch und Russisch, ja sogar durch Meret Becker ohne Schaden überstanden.

Tatsächlich geschah noch Absurderes: Jahrzehntelang hat sich Waits nur in seinem eigenen Kosmos bewegt, hat vielleicht die Barpianisten-Karikatur seiner Anfangstage zur bibelfesten und zirkusreifen Freakshow weiterentwickelt und seinen Stil immer weiter verfeinert. In den 90ern wurde er schließlich vom Zeitgeist überholt, gewann Grammys, wurde als Komponist für den Oscar nominiert, Hollywood-Filme wie „Pulp Fiction“ oder „L.A. Confidential“ schienen bevölkert von Figuren aus seinen Songs, und Beck, Nick Cave oder PJ Harvey formulierten seinen Ansatz zu Popphänomenen aus.

Nun, wenige Jahre später, hat sich die Welt weitergedreht und Waits wieder aus den Augen verloren. Stattdessen wird ihm nun zum Vorwurf gemacht, sich selbst zu wiederholen, als wäre er nicht immer doch nur der Alte geblieben. Mit „Mule Variations“ klopfte Waits zuletzt an die Tür, hinter der die amerikanische Folklore zum Kaffeekränzchen sitzt, mit „Blood Money“ und „Alice“ kriegt er nun sein eigenes Gedeck. Neben Neil Young, Van Morrison oder Bob Dylan ist Waits zu einem jener Fixpunkte geworden, die der Welt entrückt scheinen und nur mehr auf sich selbst verweisen.

THOMAS WINKLER

Tom Waits: „Blood Money“, „Alice“ (beide Anti/Epitaph/PIAS/Connected)