Jede Menge Grau

Vor vierzig Jahren hat Rudolf Lorenzen die Geschichte eines ganz gewöhnlichen Mitläufers geschrieben. Jetzt steht eine Wiederentdeckung an – der Roman „Alles andere als ein Held“

Grau sind die Anzüge der Angestellten und der Alltag. Feldgrau sind die Uniformen

von WERNER JUNG

Im Jahr 1959 findet der Aufstieg der (west-)deutschen Literatur in die Europa- und Weltliga statt: mit Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ und vor allem Grass’ „Blechtrommel“. Hinzu kommen Romane von Paul Schallück, „Engelbert Reineke“, und Böll, „Billard um halbzehn“. Und es tritt auch das Genre des Angestelltenromans mit Ruth Rehmanns „Illusionen“, der für den Preis der Gruppe 47 nominiert worden ist, in eine neue Phase. Fremde, unerhörte Töne kündigen sich auf breiter Front an. Vergessen wir nicht die schräg-schrillen Klänge der Konkreten aus dem Stuttgarter Bense-Kreis. Es scheint, als habe der gute alte Realismus ausgedient. Oder?

Klar, dass ein solches Fossil wie Rudolf Lorenzens „Alles andere als ein Held“ bei seiner Erstveröffentlichung eben 1959 den Weg alles Unzeitgemäßen nehmen musste. Mehr oder weniger unbemerkt verschwand das Buch schnell von der literarischen Landkarte: ein Zeitroman über jüngst Zurückliegendes, der das Schicksal eines hundsgewöhnlichen Deutschen vom Jahrgang 1922 während des „tausendjährigen Reiches“ und glückloser späterer Jahre erzählt, bis ihm am Ende doch noch die poetische Versöhnung zuteil wird und er in den Armen seiner neuen Freundin einer glücklich-befriedeten Zukunft im Wirtschaftswunderland entgegenschlummert. „Als er in der Nacht neben ihr lag, empfand er, daß es nichts, überhaupt nichts mehr gäbe, worüber er unglücklich sein müßte.“ So der vorletzte Satz auf immerhin Seite 622.

Aus dem Abstand von mehr als 40 Jahren, in denen die Aufgeregtheiten um den Grass-Roman längst ebenso passé sind wie die Irritationen über die vermeintliche Schwerverständlichkeit Johnsons, wird heute die erstaunliche Leistung Lorenzens diesseits seines behäbig realistischen Stils und – mit Maßen – ironischen Gestus deutlich. Denn es gelingt ihm in und mit diesem Roman ein bemerkenswertes mentalitätsgeschichtliches Dokument: nämlich die Geschichte eines ewigen Mitläufers der – eben alles andere denn ein Held – sich immer so durchmogelt, immer so durchlaviert, der sich anpasst, aber doch klug genug ist, sich nicht zu exponieren, den Minderwertigkeitsgefühle plagen, ohne dass diese xenophobisch umgeleitet würden und sich dadurch Luft verschafften. Lorenzen schreibt die Geschichte eines geradlinigen Lebenslaufs, die Geschicke eines Vertreters jenes gebeutelten Jahrgangs 22 von dessen 11. Lebensjahr an mit abgebrochener Schulkarriere, der Ausbildung zum Kontoristen in Bremen, Hitlerjugend, Kriegsteilnahme und Gefangenschaft bis zum Wiedereintritt ins Berufsleben, einen mehrjährigen Aufenthalt in Südfrankreich und schließlich der Rückkehr in die Bundesrepublik und der – wenn auch nicht glaubwürdigen – Eröffnung eines eigenen Unternehmens.

In diesen unaufgeregten epischen Fluss schreibt Lorenzen noch das minutiöse Sozio- und Psychogramm eines gewöhnlichen Deutschen hinein. Dabei hält er sich eng bei dessen Gedankenwelt und ideologischem Rayon auf, ohne seinen Helden Mohwinkel zu diskreditieren oder gar zu denunzieren. Der Roman verbleibt strikt in den Grautönen (entsprechend der Flaubert’schen Forderung, dass nur darin Wonnen und Schrecken der Gewöhnlich- wie Alltäglichkeit beschrieben werden können!). Folglich erfährt der Leser jede Menge über die grauen Anzüge der Angestellten, das Feldgrau der Uniformen, die graue Einöde des Alltags. Lorenzens Roman kann ebenso als Zeit- und Gesellschaftsroman wie – aufgrund des gewachsenen Abstands – historischer Roman gelesen werden. Zudem beweist er seine Qualitäten im Genre des Angestelltenromans auf vielen Seiten.

Aber gibt es denn nirgends eine Irritation in diesem Angestelltenepos? Und wo könnte sie vom Erzähler untergebracht werden, der sich des Schicksals eines, wie sein Lehrer schon wusste, „nirgends Einzuordnenden“, eines „unbeteiligten Zuschauers“ angenommen hat, eines Menschen auch, der von sich selbst behauptet: „Ich bin ein gleichgültiger Mensch, mit mir ist nichts los“?

An einer einzigen Stelle freilich, in der Beschreibung eines Fiebertraums, reißen plötzlich Abgründe auf, gähnen Untiefen, die uns mit der Psychopathologie des gewöhnlichen deutschen Alltagsmenschen der Zeit konfrontieren: Robert Mohwinkel sieht in seinem Fieberwahn zwei Männer die Rinde eines Baumes schälen, unter der immer wieder andere Rindenschichten auftauchen – der Baum „hatte nur aus Rinde bestanden, die Fetzen lagen überall umher, übersät mit Unmengen von Borkenkäfern, die darauf herumkrochen. Robert sah, wie immer mehr Käfer kamen, bald wimmelte alles um ihn her von diesen ekligen Tieren; sie übersäten die umherliegenden Rindenstücke, sie fraßen sich in sie hinein und durchbohrten sie, um an der anderen Seite wieder hinaus- und weiterzukriechen. Mit dem Aufgebot letzter Kraft hob Robert die Hand und schlug in die wimmelnde Masse der Borkenkäfer hinein. Er schlug zweimal, dreimal zu, dann erschrak er plötzlich: Er hatte sich ins Gesicht geschlagen. Es war schwarz von Fliegen gewesen.“

Hier haben wir das geheime Zentrum des Textes vor uns. Lauter Schalen ohne Kern, Hüllen aus Nichts, ein Schein ohne Deckung … – und Beunruhigung und Bedrohung setzen ein.

Rudolf Lorenzen: „Alles andere als ein Held“. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 623 Seiten, 26 €