Einblicke in die „Generation Krieg“

Sechs Jahre nach Ende der Kämpfe ist Bosnien-Herzegowina mehr als eine Tristesse aus Gräbern, Ruinen und Minenfeldern. Die Zeichen des Aufschwungs sind mindestens so unübersehbar wie die Wunden, die der Krieg hinterlassen hat

„Ja, Bosnien ist das Land des Hasses“, schrieb Literatur-Nobelpreisträger Ivo Andrić einst in seiner „Brücke über die Drina“. Mehr als elf Jahre nach dem Ausbruch des jugoslawischen Bürgerkrieges und drei nach seinem Ende „hat der Westen genug vom Balkan“, sagt heute ein Mitarbeiter des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) im bosnischen Goražde resigniert.

Beide Zitate geben den einen, bedrückenden Teil der Gegenwart Nachkriegs-Bosniens wieder. Einer Gegenwart, die noch immer geprägt ist vom Krieg, Andrić’ „hungrigem Tier“, das in Bosnien von 1992 bis 1995 rund 150.000 Tote forderte, das Leid, Ruinen und zwei Millionen Landminen hinterließ. Der Krieg, der nicht wie eine Naturkatastrophe über die Menschen kam, sondern eine Vergangenheit hatte. Eine Gegenwart, die von außen betrachtet für die Menschen in einem trotzig-fatalistischen Zweckoptimismus mündet – in einer „Flucht in die Zukunft“.

Genau so haben der Südosteuropa-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Matthias Rüb, und der Fotograf Oliver Tjaden von der Agentur „laif“ ihr gemeinsames Buch genannt. Es geht den beiden nicht um die sichtbaren Etappen in den Biografien von Menschen, die während des Krieges zu Flüchtlingen wurden. Denn zwischen den trockenen Zeilen und den düsteren Schattierungen – Text und Bild sind eng miteinander verzahnt – schimmert der Aufbruch hervor. „Das Leben geht nicht nur weiter, es geht auch voran“, möchte man viele der teils großformatigen Schwarzweißfotografien untertiteln, die das Buch dominieren.

Der in Dortmund lebende Bildjournalist Oliver Tjaden hat sich viel Zeit genommen und Bosnien-Herzegowina jahrelang bereist. Seine Fotografien sind tiefe, intensive Einblicke in das Leben der bosnischen „Generation Krieg“. Natürlich hat Tjaden die dem Leser bereits bekannte Tristesse aus Gräbern, Ruinen und Minenfeldern festgehalten – auch. Doch die meisten Bilder prägt ein hoffnungsvollerer Unterton: Die Hochzeitsfeier in einer kalten Garage bei Tuzla, das Volleyballmatch der Kriegsamputierten in Lukavac, die trotzige Mama vor dem SFOR-Schützenpanzer brechen aus der gängigen Bildsprache der Bosnien-Bildberichterstattung aus.

So sehr die Szenerie der zerstörten Städte und ausgebrannten Individuen auch durch Stagnation und Frust geprägt ist, so deutlich fangen die Bilder Tjadens auch etwas anderes ein: die Bewegung zurück zur Normalität, die kleinen Schritte, die die Menschen in quälendem Zeitlupentempo in den nächsten Augenblick herüberretten. Die Fotos zeigen also mehr als nur „die Opfer des neuen Nationalismus“, von denen Mostars ehemaliger EU-Administrator Hans Koschnick in seinem Vorwort schreibt. Vielmehr bilden sie Individuen auf der Suche nach einem neuen Leben ab. Und um das zu untermauern, verbindet der Journalist Matthias Rüb Oliver Tjadens Bilder mit optimistisch gefärbten Reportagen, mit den Schicksalen vom Souvenirhändler aus Mostar und dem Bäcker aus Trnovo – nach Ansicht des Autors „Pionieren der Rückkehr“. Rübs Textbeiträge vermitteln immer wieder die Wirkung des Klopfens von Hämmern oder des beruhigenden Tuckerns des Traktors. Fast sieht man die Milliarden der internationalen Gemeinschaft, die hier verbaut wurden. Fazit in dem von der Deutschen Stiftung für UN-Flüchtlingshilfe herausgegebenen Band: „Die Zeichen des Aufschwungs sind unübersehbar.“

Wie Tjadens Fotos spannen auch Rübs Texte den Bogen zwischen Bitterkeit und Hoffnung. Der FAZ-Korrespondent mischt hier – ebenso wie in seinen Büchern „Balkan Transit“ und „Kosovo“ – eigene Erlebnisse von hoher erzählerischer Dichte mit der politischen Analyse. Er erklärt nüchtern die historischen Vorgänge von der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389 bis zum Massaker von Srebrenica 1995 – und er dokumentiert auch die politisch gefärbten Interpretationen, die verschiedenen Wahrheiten der unterschiedlichen Kriegsparteien. „Einer der törichten Sprüche über den Krieg ist jener“, meint Rüb, „dass sein erstes Opfer die Wahrheit sei.“ Die Wahrheit sei schon in Friedenszeiten kein absolutes Gut, sondern relativ. „Im Krieg kommt es dann zur explosionsartigen Vermehrung der Wahrheiten.“ Ein wahres Wort.

Der pointierte, aber nüchterne Stil verstärkt Rübs Rolle als Kommentator: Die viel beschworene „Erbfeindschaft“ zwischen den Balkanvölkern und ihre historisch begründeten Nationaltraumata als Grund für den Konflikt widerlegt Rüb in 45 Zeilen. Für ihn ging es in Bosnien um einen Kampf gegen den „Anderen“, um das „Jeder gegen jeden“ – und nicht etwa um „ethnische“ Auseinandersetzungen. Ganze fünf Zeilen reichen dem Autor, um zu erklären, wie dies hätte verhindert werden können: indem die westlichen Staaten gegen die Kriegstreiber in Belgrad konsequenter vorgegangen wären. Seinen Text beschließt Matthias Rüb mit einer trockenen Feststellung: Es wäre besser gewesen, Bosnien „gleich nach Friedensschluss unter eine wohltuende Zwangsverwaltung der Staatengemeinschaft“ zu stellen. Denn auch für die Zukunft im heutigen „Halbprotektorat“ gelte: kein Frieden ohne die Nato-Schutztruppe SFOR.

„Flucht in die Zukunft“ ist mehr als eine Bestandsaufnahme des Lebens der Menschen in Nachkriegs-Bosnien-Herzegowina. Das Buch bietet einen tiefen, intimen Einblick in die lädierte Seele der bosnischen Bevölkerung. Gleichzeitig zeigen Rüb und Tjaden eine Perspektive, die hoffen lässt und – in der gelungenen Verbindung von ruhigen, intensiven Bildern und engagiertem Kommentar – beim Leser Bewusstsein statt Betroffenheit erzeugt. Matthias Rübs „viele Wahrheiten“ fügen sich nach und nach zu einem Bild: Den Landstrich, den der resignativ wirkende UNHCR-Officer betreut, nennt dieser trotz allem liebevoll „mein Baby“. Und auch das eingesetzte Zitat von Ivo Andrić endet nicht mit dem Hass, sondern beschwört „so viel erhabene Beständigkeit des Charakters, so viel Zärtlichkeit und Liebe, so viel Gefühlstiefe“ der Menschen in Bosnien-Herzegowina.

Bosnien ist, knüpft Rüb an, ein Land, in dem – auch sechs Jahre nach Kriegsende – „die Bindung zum Heimatdorf, zu diesem Berg oder jenem Fluss, zu den eigenen vier Wänden und auch zum Nachbarn aus alten Zeiten“ ebenso stark sei wie das „Zusammengehörigkeitsgefühl in einem eher proklamierten als wirklich existierenden völkischen Kollektiv“. CHRISTOPH RASCH

Matthias Rüb/Oliver Tjaden: „Flucht in die Zukunft – Bosnien nach dem Krieg“, Benteli Verlag Bern, 24,80 €