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: Heute beginnt das 55. Filmfestival von Cannes – zum neunten Mal ohne einen deutschen Film im Wettbewerb

Eine cineastische Enzyklopädie

Filmfestspiele haben etwas von jener mittlerweile recht berühmten chinesischen Enzyklopädie, die zuerst zu zitieren Jorge Luis Borges das Vergnügen hatte. Darin kommen vor: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen“.

So ähnlich verhält es sich mit dem Festival de Cannes, das heute Abend mit Woody Allens „Hollywood Endings“ eröffnet wird. Da gibt es a) Filme, die digital projiziert werden, b) Komödien, c) Filme, die auf einer Leinwand über dem Meer zu sehen sind, d) Filme, in denen Joe Dallessandro Brust und Bein zeigt, e) Filme, die unausgeschlafenen Kritikern um 8.30 Uhr am frühen Morgen präsentiert werden, f) Filme aus der Türkei, Brasilien, Thailand, Algerien, Argentinien, Israel, Syrien, Libanon, Mauretanien, Tadschikistan und Palästina, g) Filme, die sich um eine Goldene Palme streiten, h) Filme, die als Boten des Friedens an die Côte d’Azur reisen, i) Schulmassaker-Dokumentationen, k) Filme, die aus der Nähe und aus der Ferne nach englischer Sozialromantik riechen, und schließlich l) Filme, die zwei Stunden und länger dauern.

Was es nicht zu sehen gibt, sind m) Filme im offiziellen Programm, die deutscher Herkunft wären, und deswegen sind Teile der Fachöffentlichkeit verstimmt. Das ist das siebte, achte, neunte Jahr in Folge, wie kann das angehen? Seit Wochen landen in den Zeitungsredaktionen Faxe und E-Mails, die stolz sind, immerhin auf die Präsenz der einen oder anderen Koproduktion hinweisen zu können oder auf einen Kurzfilm, der es ins Programm geschafft hat. Auch die Tatsache, dass Jan Schütte zur Kurzfilm- und Cinéfondation-Jury zählt, wurde mit Genugtuung vermeldet. Das ist ein wenig, als verwechselte man ein Filmfestival mit einer nationalen Leistungsschau oder Filmkritik mit einer Fußballberichterstattung, bei der es vorrangig die eigene Mannschaft zu bejubeln gilt. Andererseits: Die Maiausgabe der Cahiers du Cinema widmet dem französischen Kino ein Dossier von über 30 Seiten. „Die ganze Welt“, heißt es dort, „ist auf der Suche nach der idealen Frau: Catherine Deneuve, Sophie Marceau, Isabelle Huppert, Béatrice Dalle …“ Sie haben Emmanuelle Béart vergessen. Und Fanny Ardant und Elodie Bouchez …

Zum Schluss noch ein paar Namen und Koinzidenzen: Der Jury vorsitzen wird David Lynch, der im vergangenen Jahr „Mulholland Drive“ präsentierte. Damals war David Cronenberg Vorsitzender der Jury, der in diesem Jahr mit seinem Film „Spider“ am Wettbewerb teilnimmt. Martin Scorsese wird 20 Minuten aus „Gangs of New York“ vorstellen. Catherine Breillat zeigt „Sex is Comedy“, das Making of „À ma soeur“. Der fiel vor anderthalb Jahren bei der Berlinale eher durch, als dass er reüssierte. Manoel de Oliveira ist vertreten, obwohl oder weil er im letzten Jahr mit „Je rentre à la maison“ einen Film über das Abschiednehmen vorstellte. Aki Kaurismäki, Roman Polanski, Ken Loach und Alexandre Sokourov sind eingeladen, und was bleibt jetzt noch zu sagen außer: n) und so weiter? CRISTINA NORD