Der Klassenälteste

Von fliegenden Schlüsselbünden und Klassenbüchern: Wie aus den Sitzenbleibern eines Wolfsburger Gymnasiums ein Künstler und ein Selbstmörder hervorgingen – Schulerinnerungen nach Erfurt

Auf der Homepage der Schule schwärmen Ehemalige heute von ihrer geliebten Penne

von WOLFGANG MÜLLER

Nur im Bundesland Thüringen gibt es keinen Schulabschluss für Schüler, die durch das Abitur fallen: keinen Realschul-, nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Das ist ein Skandal, der eigentlich zum Rücktritt des verantwortlichen Thüringer Kultusministers führen müsste. Allerdings: Dass ein durchgefallener Abituranwärter aufgrund dieser Ungeheuerlichkeit zum brutalen Amokläufer wird, so wie der Erfurter Schüler Robert Steinhäuser, klingt genauso unwahrscheinlich wie ein Amoklauf, der durch den Konsum von Videospielen und der Mitgliedschaft im Schießverein ausgelöst wird.

Vor zwei Jahren fand ich im Internet die offizielle Homepage meiner alten Schule, des Ratsgymnasium im niedersächsischen Wolfsburg. Ehemalige Schüler der 50er-Jahrgänge schwärmten auf der Gästeseite von ihren Erinnerungen an die geliebte Penne, berichteten von ihren heutigen Tätigkeiten und ihren exotischen Wohnorten. Irgendwie nervte mich der fröhlich-harmlose Gedankenaustausch, und ich gesellte mich mit Fragen und einem Kommentar über meine „gemischten“ Erinnerungen an das Gymnasium dazu. Ob es denn heute noch üblich sei, dass Lehrer mit Schlüssel oder Kreide nach den Köpfen der Schüler werfen? Oder ob es noch heute die Androhung eines Schulverweises vom Rektor gebe, wenn sich ein Schüler erlauben würde, eine Baskenmütze in der Klasse zu tragen? Gibt es das „Zur-Strafe-in-der-Ecke-Stehen“ noch? Aber mir fielen auch ein paar schöne Erinnerungen ein, die ich ins Gästebuch eintrug.

Kurz darauf erhielt ich eine sympathische Mail des heutigen Schulleiters. Falls ein Lehrer einen Schüler heute körperlich angreife, bekäme er es mit ihm zu tun – das gelte auch bei seelischer Misshandlung. Ein Miteinander von Schülern, Lehrern und Eltern sei heute Maxime des Gymnasiums: „Also nix da mit Kreide und Schlüsselbund …“

Warum sehne ich mich so gar nicht nach meiner Schulzeit zurück? Warum hege ich gar einen gewissen Groll, wenn ich die Fröhlichkeit der Gästebuchseiten betrachte? Zu Ehemaligentreffen bin ich zum Glück nie eingeladen worden. Wie auch, es gibt gar keine „meine Klasse“.

Meine Eltern ließen mich die fünfte Klasse in der Volksschule beenden und mich dann in die fünfte Klasse des Gymnasiums einschulen. Wegen eines „Mangelhaft“ (5) in Englisch wiederholte „Wolfgang auf Wunsch der Eltern“ und des sie beratenden Klassenlehrers dann „freiwillig die fünfte Klasse“. Damit hatte ich also dreimal die fünfte Klasse durchlaufen und war fortan Klassenältester.

In den Klassenbüchern wurden seinerzeit vom Lehrer die Berufe der Eltern notiert. „Vater: Bandarbeiter, Mutter: Hausfrau“ stand hinter meinem Namen. Ich begriff nicht, warum sich meine Mutter (Abschluss: mittlere Reife) nach dem Elternabend darüber ärgerte: „Dein Vater ist doch gelernter Tischler! Warum hast du denn nicht ‚Tischler‘ gesagt, als dich der Lehrer nach dem Beruf fragte?“ Ich kannte ihn jedenfalls nur als Arbeiter, der am Fließband bei VW malochte, in Nachtschichten, und dieses Fließband zunehmend verfluchte. Offensichtlich war ich in der überfüllten Gymnasialklasse der Volkswagenstadt das einzige Arbeiterkind, pardon Bandarbeiterkind – wenn dem Klassenbuch zu trauen war.

In den nächsten Jahren verlor ich mehr und mehr jede Lust am Schulbesuch, in der zehnten Klasse schließlich blieb ich erstmals tatsächlich sitzen, nun war ich Allerältester. Das Wiederholungszeugnis indes fiel noch schlechter aus als das Zeugnis vom Vorjahr, da der Sportlehrer mit einer Überraschungsfünf aufwartete. Das Zeugnis vermerkte lakonisch: „Wolfgang muss die Schule verlassen.“ Ohne jedes Abschlusszeugnis.

Meine Eltern waren rat- und hilflos angesichts übermächtig erscheinender Autoritäten. Von der Schulleitung oder vom Lehrerkollegium war für solche Problemfälle kein Gesprächsangebot vorgesehen.

Verzweifelt rief ich den zuständigen Schulrat an, ob durch ihn denn nicht das erste „Nicht-versetzt-Zeugnis“ der 10. Klasse nachträglich als mittlere Reife anerkannt werden könnte. Schließlich gebe es in der Realschule ja kein Französisch, die Note 5 könnte damit vielleicht nachträglich gestrichen werden.

„Kommen Sie mal mit dem Zeugnis vorbei“, erwiderte der Schulrat. Mit einem Vorjahreszeugnis in der Hand, auf dem handschriftlich groß und deutlich vermerkt war: „Wolfgang stört den Unterricht durch Privatgespräche“ – darüber „Nicht-versetzt“ –, betrat ich das Büro.

Freundlich lächelnd nahm der Schulrat das Zeugnis entgegen, spannte es in die Schreibmaschine und tippte in eine freie Lücke hinein: „Dieses Zeugnis verleiht die gleichen Berechtigungen wie das Abschlußzeugnis der Realschule“. Über die kleinen, grauen Schreibmaschinentypen drückte er seinen blauen Stempel, darunter seine Unterschrift.

Ich erhielt die „mittlere Reife“ – auf einem Zeugnis, mit dem sich niemand ernsthaft um eine Stelle bewerben würde, ohne vor Scham in den Erdboden zu versinken. Eine totale Katastrophe für mich, aber auch für die Zukunftspläne meiner Eltern, die mich in heimlichen Hoffnungen bereits als Rechtsanwalt oder Bankangestellten gesehen hatten. Zum Glück wollte ich Künstler werden, da darf man ja ganz offiziell stören und auch mal Privatgespräche führen – auf keinen Fall aber Starfighterpilot bei der Bundeswehr, wie einer meiner Klassenkameraden. Er erschoss sich im Keller seines elterlichen Hauses mit einem Jagdgewehr seines Vaters, nachdem seine erneute Versetzung gescheitert war und damit sein Abitur. Bild berichtete aus Wolfsburg.

Den ahnungslosen Eltern hatte er mehrere Monate vorgespielt, er gehe allmorgendlich zur Schule. Als ich ihn zufällig traf, nur kurze Zeit vor seinem Selbstmord, erzählte er mir etwas von einem tollen Job, den er nun habe. Das Ratsgymnasium in Wolfsburg ist für mich noch heute ein Albtraum. Mein Gästebucheintrag ist übrigens spurlos verschwunden. Es herrscht dort wieder die einträchtige Harmonie glücklicher Schulabgänger.

Wolfgang Müller lehrt zurzeit als Gastprofessor an der HfBK Hamburg