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: Marco Bellochio versucht sich an einer Heiligsprechung

Würde der Soundtrack riechen, der Kinosaal hinge voller Weihrauch

Kaum macht man sich Gedanken über Heiligenerscheinungen und himmelwärts führende Festivaltrailer, folgt die Strafe auf dem Fuß. Und zwar in Gestalt des italienischen Wettbewerbsbeitrags „L’ora di religione – Il sorriso di mia madre“ (Die Stunde der Religion – Das Lächeln meiner Mutter) von Marco Bellochio. In Rom angesiedelt, erzählt der Film von dem Maler und Illustrator Ernesto Picciafuoco (Sergio Castellitto) und von dessen Mutter, die, nachdem sie von ihrem eigenen Sohn, Ernestos irrem Bruder Edigio, erschlagen worden ist, heilig gesprochen werden soll. Ernesto ist der einzige in seiner großen Familie, der noch bei Trost ist und sich dem Unterfangen in den Weg stellt. Das macht aus „L’ora di religione“ zwar einen antikatholischen Film, doch ähnelt er darin dem Antikriegsfilm: So wie dieser immer auch Kriegsfilm ist, da er seine Schauwerte nolens volens aus Kampfhandlungen bezieht, so ist „L’ora di religione“ ein katholischer Film, weil er sich aus dem Budenzauber der Kirche speist. Hätte der Soundtrack einen Geruch, der Kinosaal hinge voller Weihrauch. Von der campiness einer sizilianischen Mater Dolorosa oder der einer Madonna, die im bolivianischen Tiefland Autos segnet, ist das leider weit entfernt. Bellochio setzt eben auf die Bedeutungsschwere und das Pathos, wie sie der Religion selbst zu eigen sind. Sein Film ist dadurch so lästig wie eine Unterhaltung mit einem missionslüsternen Kirchenmann.

Vom Einschließungsmilieu der katholischen Kirche zu anderen Einschließungsmilieus: zur Schule, die einen Schauplatz in Michael Moores „Bowling for Columbine“ darstellt. Der Dokumentarfilm nimmt das Massaker an der Columbine High School in Littleton zum Anlass, sich Gedanken über das Verhältnis der US-Amerikaner zu ihren Waffen, über Angst und Gewalt und beider Wechselwirkung zu machen. Moore hat einen wohltuend polemischen Film gedreht. Seine These, Bewaffnung und Sicherheitsmaßnahmen würden Bedrohung nicht ausräumen, sondern verstärken, steht in eigentümlichem Missverhältnis zur Welt diesseits des Kinosaals. Denn zur Türpolitik des Festivals gehören aufdringliche Metalldetektoren ebenso wie regelmäßige Taschendurchsuchungen.

Noch mehr Einschließungsmilieus: Fabrik und Knast. Die wählt die junge belgische Regisseurin Bénédicte Liénard in ihrem ersten Spielfilm „Une part du ciel“ (Ein Stück Himmel) zum Schauplatz. Zwei Frauen stehen jeweils im Mittelpunkt, ohne doch Raum und Macht einer Hauptfigur für sich zu beanspruchen. Die eine, Joanna (Sévérine Caneele), versucht sich im Knast ein bisschen Würde zu bewahren, die andere, Claudine (Sofia Leboutte), versucht gegen die Firmenleitung und ihre Gewerkschaft gleichermaßen zu agieren. Denn die sind zu einer Übereinkunft gekommen, die die Arbeitsbedingungen in der Großbäckerei noch weiter verschlechtern wird. Die Einsamkeit der Frauen in den Zellen, die Monotonie der Fließbandarbeit, die Erniedrigungen und Beleidigungen, die an beiden Orten zum Alltag gehören: All das findet in Liénards Film eine bemerkenswerte bildhafte Entsprechung – etwa im Rhythmus der vorbeiziehenden Gebäckstücke, in der Szene, in der Joanna in Einzelhaft gerät, wenn Häftlinge und Arbeiterinnen lange Flure hinabgehen, bis sie an Schleusen oder Gittersperren ankommen. Oder wenn die Frauen im Gefängnis ausgerechnet Landkarten falten müssen und die, die sich nicht bewegen dürfen, herstellen, was andere zur Bewegung brauchen. Eindrücklich auch, wenn eine der Inhaftierten abends allein und nackt in der Zelle zu lautem Rap tanzt, mit offensichtlichem Genuss an ihrem mächtigen Körper, der seiner Umgebung trotzt. Liénard hat mit Schauspielerinnen, mit Fabrikarbeiterinnen und mit Häftlingen gearbeitet, was jeder Szene Präzision verleiht. Den Himmel übrigens zeigt „Une part du ciel“ fast nie. CRISTINA NORD