Keiner schaut auf diese Stadt

Berlin, als „Insel der Freiheit“ einst Symbol des Kalten Krieges, hat seit dem Fall der Mauer für die Weltmacht USA deutlich an Bedeutung verloren

aus Berlin ADRIENNE WOLTERSDORF

In der Nachkriegsgeschichte hat kaum eine andere Stadt die Teilung der Welt so klar symbolisiert wie Berlin. Die einstige Hauptstadt des Feindes war mit Kriegsende zum Brennpunkt geworden. So heiß, dass Außenminister John Foster Dulles gegenüber Kanzler Konrad Adenauer andeutete, dass der Schutz der westlichen Interessen je nach Situation sogar den Einsatz von Atomwaffen erforderlich machen könnte. Es hatte sich das vollzogen, was der Historiker Gordon A. Craig „die amerikanische Entdeckung Berlins“ nannte.

Dennoch, es war das kleine Westberlin, das die Alliierten während der wiederkehrenden Krisen an einen Tisch zwang. Für den Westen wurde die Frage nach dem Schutz der „Insel der Freiheit“ zum Katalysator des Engagements. Diese selbst auferlegte Verpflichtung der USA bedeutete, dass die Sowjets hier „entweder mit uns zusammenarbeiten mussten oder sich einer gefährlichen Konfrontation ausgesetzt sahen“, beschriebt es Exbotschafter John Kornblum. Für ihn ist Berlin im Krieg der Systeme rückblickend sowohl ein Sicherheitsventil als auch ein Ort der Kommunikation gewesen.

Tatsächlich wurde in Berlin nicht nur miteinander verhandelt. Vielmehr nutzten Staatschefs hüben wie drüben die Kulisse der geteilten Stadt als großartiges Forum, um sich an den Gegner oder die Verbündeten zu wenden. Oder gleich an die Wähler zu Hause. Zur Zeit des Kalten Krieges war ein Besuch in der „Frontstadt“ Berlin den US-Politikern daher Pflicht und Anliegen zugleich. „Was ein Amerikaner hier sagte, hatte international mehr Bedeutung, als wenn er dieselben Dinge in Paris oder London gesagt hätte“, meint Knud Krakau, ehemaliger Direktor des John-F.-Kennedy-Instituts an der FU Berlin. Mit dem Fall der Mauer allerdings ist der Spree-Metropole ihre Sonderrolle abhanden gekommen. „Berlin ist zurückgetreten in die Reihe aller anderen europäischen Zentren.“ Das anstehende Besuchsprogramm George W. Bushs macht es deutlich: kein Gang zum Brandenburger Tor; nicht einmal ein Blick auf den Standort, von wo sein republikanischer Amtsvorgänger Ronald Reagan 1987 seinen historischen Satz: „Mr Gorbachev, open this gate“, aussprach.

Ein Höflichkeits- und Arbeitsbesuch, mehr nicht. Es ist zudem das erste Mal, dass ein US-Präsident nicht vorhat, das Wort an die deutsche Öffentlichkeit zu richten. Schon der Besuch Bill Clintons im Jahre 2000 glich mehr einer Stippvisite auf dem Weg in die fernsehtauglich-historische Kulisse Aachen, wo sich der scheidende Präsident den Karlspreis verleihen ließ.

Andererseits spielt Big Brother auch für Deutschland und die Berliner eine zunehmend „normalere“ Rolle, meint der Historiker und Kennedy-Forscher Andreas Etges. Jubelten Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus 1963 noch fast anderthalb Millionen Menschen zu, kamen zu Blill Clinton nur noch rund 250.000 Fähnchen schwingende Berliner.

Nur knapp 40 Jahre spannen sich von dem Kennedy-Satz „Ich bin ein Berliner“ über Bill Clintons „Alles ist möglich“-Rede 1998 bis hin zur Bush-Visite. Vier Jahrzehnte, in denen aus Washingtoner Perspektive nicht nur Berlin, sondern Deutschland allgemein an Bedeutung verloren hat. Schlichtweg „uninteressant“ sei die einstige östlichste Westmacht mit ihrer Insel der Freiheit für die Weltsicht der USA, meint der Amerikanist Krakau. „Wir gehen ein in die allgemeine Unaufmerksamkeit der Amerikaner gegenüber der Welt.“ Seiner Meinung nach interessiert sich die mächtigste Nation der Welt zudem nicht mehr besonders für die Koalitionen und Bündnisse, die einst geschmiedet und angelegt wurden, um gemeinsame Werte zu pflegen. Bush sei da nur die Inkarnation des viel weiter gehenden Trends zum Unilateralismus in der US-Politik. Der gehe weg von dauerhaften Allianzen hin zu interessengeleiteten Ad-hoc-Partnerschaften.