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: Altern in Würde, jung sein in Chinas Provinz

Sprengstoffattrappe am Bauch

Wie altern, ohne seine Würde zu verlieren? Das fragen sich in diesem Jahr einige Filme. Der südkoreanische Film „Too young to die“ findet eine überraschend einfache Lösung: Wer sich liebt und genug Sex hat, den können Falten, Gebiss und körperliche Gebrechen nicht schrecken. Dass der Filmemacher Park Jin-Pyo seine sich selbst verkörpernden Protagonisten, den 73 Jahre alten Park ChiGyu und die 72 Jahre alte Lee SunYe, beim Sex zeigt, ist ein Wagnis. Aber eines, das gut ausgeht. Denn der Regisseur wie die Darsteller stellen die Selbstverständlichkeit dessen, was sie vor der Kamera tun, in keinem Augenblick in Frage. Etwas anders verhält es sich mit Kathy Bates, die in „About Schmidt“ für eine Szene aus ihrem Kimono schlüpft und den Blick auf hängende Brüste freigibt. Wenn dies auf der Pressekonferenz als heroischer Akt gefeiert wurde, zeigt sich vor allem, wie sehr sich die Filmindustrie auf optimierte Körper fixiert. Auf den Gedanken, dass hängende Brüste eine spezifische Form der Schönheit haben, kommt offenbar niemand.

Der in der „Quinzaine des Réalisateurs“ gezeigte „Only the Strong Survive“ ist ein weiterer Film, der alte Menschen in den Mittelpunkt stellt. Genauer gesagt: Alt gewordene Musiker, Soul-Legenden, die ihre guten, ihre großen Tage in den 50er-und 60er-Jahren hatten, Rufus Thomas, Isaac Hayes, Sam Moore, Wilson Pickett, Ann Peebles, Mary Wilson und andere. Die Filmemacher Chris Hegedus und D.A. Pennebaker haben ihrer Gegenwart einen schönen Film gewidmet. Es sind viele Konzertmitschnitte aus den Jahren 1999 und 2000 dabei, einzelne Songs werden fast in ihrer ganzen Länge ausgespielt, sodass sich das Kino für Minuten in einen Konzertsaal verwandelt. Sanft unterbrochen wird dies von Interviews, die der New Yorker Journalist Roger Friedman führt, und von Aufnahmen aus dem Studio des Radiosender WDIA in Memphis, wo man Rufus Thomas (der im vergangenen Dezember im Alter von 84 Jahren gestorben ist) zusehen kann, wie er seine Show moderiert.

„Only the Strong Survive“ verwendet relativ wenig Archivmaterial, da der Fokus klar auf dem Hier und Heute liegt. Die tragischen Seiten im Leben der Musiker scheinen trotzdem am Rande auf, etwa wenn Sam Moore erzählt, wie er in den 70er-Jahren Heroin und Kokain nahm und sich als Dealer in New York über Wasser hielt. Oder wie er und seine Frau Joyce um die Urheberrechte an den Stücken kämpfen. „Ihr habt die Plattenverträge unterschrieben, bevor ihr überhaupt das Recht hattet zu wählen“, sagt Joyce Moore. Kein Wunder also, dass die Verträge nicht zugunsten der Musiker ausfielen.

In Würde jung sein: Das ist auch nicht eben einfach. Schon gar nicht, wenn man in der Provinzstadt Datong irgendwo im chinesischen Norden zur Welt geommen ist, nicht weit von der Grenze zur Mongolei entfernt. Wie die Protagonisten in Jia Zhang-Kes drittem Langfilm „Unknown Pleasures“ (Wettbewerb). Sie kennen „Pulp Fiction“, tanzen zu Techno, der den Surfsound von Tarantinos Films aufgreift, und halten sich einen Augenblick lang für Uma Thurman und John Travolta. Perspektiven haben sie nicht, aber einer hat ein Motorrad, mit dem er durch die aufgelassenen Industrielandschaften fährt, immer eine Zigarette im regungslosen Gesicht. Ein zielloses Gleiten durch die Tage ist das, den Helden der Nouvelle Vague abgeschaut und doch angereichert mit zahlreichen Gegenwartsmarkern: den Nachrichtensendungen im Fernsehen, in denen Colin Powell sich zur Kollision eines US-amerikanischen und eines chinesischen Flugzeugs äußert und in denen später Peking als Sitz der Olympischen Spiele im Jahre 2008 gefeiert wird. Die Arbeiter der Industriebetriebe werden entlassen oder um ihren Lohn geprellt, und einmal explodiert eine Fabrik bei einem Attentat. Die Protagonisten planen einen Banküberfall, für den sie sich Sprengstoffattrappen um den Bauch binden: „Der Sprengstoff sieht gut aus, aber du wirkst falsch“, sagt der eine. Der andere kontert: „Bei dir sieht der Sprengstoff falsch aus und du auch.“ CRISTINA NORD