Die Gegenwart ist blau

Ich bin gleich – und anders: Wie konnte die Jeans-Industrie den Weg zurück ins Mode-Rampenlicht schaffen? Vom kleinsten Nenner hat sich die Arbeitshose zum Individualisierungsträger gewandelt

von JENNI ZYLKA

Seit einiger Zeit bummeln junge Modemäuse den Berliner Ku’damm gerne mit einem Zweitpopo rauf und runter. Der sieht aus wie eine diffus fleischig gefüllte Jeans-Shorts an Trägern und baumelt den Damen von der Schulter: modische Jeans-Handtaschen, der vorletzte Schrei für die Frau in Blau.

Aber das kann einen beinigen Menschen nicht erschüttern. Was haben wir schon alles erlebt: Jeansrock, -kleid, -hemd, Jeansauto, -fahrrad, Jeanszigaretten, Jeanssandalen und Jeansportemonnaies, einen High-o-pie namens Dave Dundas mit seinem „Jeans on“-Hit. Und natürlich Jeans pur. Mit Jeans pur scheint meistens die Levi’s 501 gemeint zu sein, eine gerade, blaue Hose, von jenem Oberfranken 1873, nach seiner Emigration in die USA, für die Goldgräber entwickelt, jaja: die rauen Männer der neuen Welt brauchten robusten Stoff an den Schenkeln, der sich nicht am Wildpferdrücken durchreibt. Wir wissen auch längst, dass nicht der junge Levi Strauss selber, sondern sein Schneider David Jacobs das Verfahren zur Verstärkung des Jeansstoffes mit Nieten erfunden hat. „Nietenhosen“ schimpfte meine Oma, Jahrgang 1909 (und damit 80 Jahre jünger als Strauss), diese Hosen dementsprechend. Und die Nietenhose sei, genau wie die „Manchesterhose“ (die Kordhose), nicht salonfähig. Diese Meinung teilt heute kaum noch jemand, höchstens Vivienne Westwood, die mal gesagt hat, sie würde sich partout nicht mit jemandem blicken lassen, der Jeans trägt. Das Statement isoliert sie wahrscheinlich.

Aber kenne ich überhaupt einen Menschen, der keine Jeans hat? No Levi’s, Diesel, Lee, Mustang? Nun ja, mich. Meine letzte Jeans trug ich bis 1978, eine Jingler-Jeans, mit Glöckchen dran. Seitdem ließ ich sie liegen, nicht aus Westwood’schen Eleganzgründen, sondern weil die Jeans es einfach zu vielen Geschmäckern recht macht. Die Jeans ist der kleinste gemeinsame Nenner der Menschheit, was Beinkleider in Röhrenform betrifft.

Aber nichts geht über eine gut sitzende 501, werden jetzt Milliarden Männer und Millionen Frauen aufheulen. Was macht denn eine 501 gut sitzend? Der Hintern, der drinsteckt. Man sollte sich nichts vormachen, auch die sagenhafte Jeans kann nicht zaubern, what you see is what you get, auch mit 18 (!) verschiedenen „Cuts“ der modernen Levi’s, neun für weiblichere und neun für männlichere Rückenenden, von 501 bis 526 oder der neuen Engineered, bleiben immer noch genug TrägerInnen sozusagen hinten vor, die mit einer klassischen Stoffhose (oder einem Rock) besser beraten wären.

Das mit der Stoffhose hatte vor ein paar Jahren sogar Konjunktur, Männer zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig legten in den 90ern eine Weile lang plötzlich ihre Jeans in den Schrank und warfen sich in Wollhosen, Anzughosen, mit jenem typischen „Unter dem Bauch, wenn man einen hat“-Bund und geraden, weiten oder leicht ausgestellten Beinen. Den Hintern sieht man in so etwas zwar nicht ganz so deutlich wie bei der Jeans, die ihn irgendwie immer nachformt, auch wenn man sie nicht abnäht (wie wir in den 80ern) oder sich damit nicht in die Badewanne setzt (wie Elvis in den 50ern), doch mir reichte das.

Aber die Jeansindustrie hat es geschafft, das schon etwas abgeschlagene Beinkleid wieder dermaßen in das Mode-Rampenlicht zu rücken, dass man in normalen Teenie-Bekleidungshöllen wie Mango oder Orsay heutzutage komplett blau sieht, Abendkleider aus Jeans, Jeansröcke, Jeansoveralls, T-Shirts mit Jeansmuster und ebendiese Jeanspopo-Handtäschchen. Das war ein Geniestreich der blauen Industrie. Zuerst hat sie auf die angebliche Macht der Stars gesetzt: Madonna mit ihrer „used“ oder „bleached“ oder „stonewashed“ Hose im „American Pie“-Video. Das sah zwar nicht jeder, und nicht jeder ist Madonna-Fan, aber die Erwähnung reicht schon. Madonna, die kaum noch ohne den „Ikone“-Zusatz in der Zeitung auftauchen darf, trägt komischfarbige Schlagjeans, wow.

Dann haben die Stoffbosse die Jeans überall hineinbugsiert, jeden Opinion-Leader damit ausstaffiert, vom Haute-Couture-Designer über die echten und Pseudo-Modezeitungen bis hin zur Teeniepresse. Und dann kamen die Gimmicks: die Rückkehr der Jeans-Devotionalie! Die neuen Schnitte! Die 80er-Jahre-Revival-Pailletten-und-Bemal-Mode! Die ist übrigens besonders schlimm: Neuerdings kann man seine eigene Hose in manchen Jeans-Shops aufs Schlimmste „professionell“ verunzieren lassen, extravagante Löcher hineinbohren zum Beispiel (als ob das nicht von selbst passierte), sie mit Verfärbungen, Bleichungen und Stoff-Unregelmäßigkeiten schmücken (als ob das nicht von selbst passierte), oder, ganz neu und schrecklich, außer Pailletten und Glitzer auch noch Sprüche in verschiedenen Farben und Schriften hineinsticken lassen. Mein Lieblingsspruch wäre ja „Dazwischen steckt immer ein kluger Kopf“. Habe ich aber noch nirgends gesehen.

Die „individuelle“ Jeans, die ein Jeans-Teen so gewonnen hat, schlägt der Beliebigkeit der Hose als kleinster Nenner ein Schnippchen: Ich bin zwar gleich, aber irgendwie auch anders. Denn auf meiner Jeans funkeln rote Pailletten. Jetzt, fast auf den Tag genau 100 Jahre nach Levis Tod, können die ehemaligen belächelten Cowboyhosen also Kunstwerke sein. Und Jeans-Werbeclips CD-Regale füllen (aus den 80ern: der Spot mit John Lee Hookers „I’m a man“, der Hose im Kühlschrank und Tatjana Patitz). Und neue, unglaublich alberne Jeans-Ideen wie die verdrehten Nähte der Levi’s Engineered die Leute zum Kaufen animieren. Ich tippe mal, dass man erst, wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fisch gefangen und die letzte Jeans aufgeribbelt ist, merken wird, dass auch Manchesterhosen verdammt kleidsam sein können.