Mit Vollgas in die Sackgasse

In „Pastoralien“ erzählt der US-Autor George Saunders von der Verelendung in menschlichen Themenparks und vom White-Trash am Rande der Shopping Malls

Die englische Ausgabe schreckt noch mehr ab. Auf dem Cover ist ein Plastikreh zu sehen, das an eine Betonsäule gekettet wurde. Die deutsche Fassung bietet eher beruhigenden Collagenkitsch mit grellen Blüten über einem Wald- und Wiesengemälde des Naturmalers Hans Thoma. Dabei ist Natur so ziemlich das Fremdeste und Entlegenste, was einem in den Kurzgeschichten von George Saunders begegnen könnte. Oder ist etwa ein Vergnügungspark, in dem sich schlecht bezahlte Erwachsene als Steinzeitmenschen vor Touristen lausen müssen, ein Symbol für die letzte verbliebene Idylle?

Natürlich nicht. Trotzdem, und das ist die Stärke von Saunders, behandelt er jede noch so desperate Situation mit einer Genauigkeit in den Beobachtungen, als wäre sie kostbares Material bei der Suche nach dem Urzustand der US-amerikanischen Gesellschaft. Was Saunders in seinen short stories beschreibt, spielt zwar in der Gegenwart von Shopping Malls, McJobs und Therapiegruppen. Aber das Resümee, das er aus diesen Gegebenheiten zieht, scheint auf eine anthropologische Konstante hinauszulaufen: Der Mensch ist dem Menschen in Amerika nicht Wolf, sondern Monster, darin liegt seine zivilisatorische Leistung, 225 Jahre nach Unabhängigkeitserklärung und Bill of Rights.

Nun ist Kaputtheit in der US-Literatur nicht eben neu. James Ellroy kennt sich gut aus mit psychischen Abgründen; Bret Easton Ellis verarbeitet in seiner Splatterprosa alles, was Geld und Glam hat. Saunders dagegen lässt sich auf das Amerika von ganz unten ein, er schildert arbeitslose White-Trash-Familien, in denen eine Jungfer gebliebene Tante als toter Zombie ihre Nichten terrorisiert, während der Neffe in einem Striplokal beschwippste Sekretärinnen an seinem Slip nesteln lässt. Auf jeder dieser Figuren lastet die Unfähigkeit, etwas aus dieser Hölle zu machen, die Leben heißt.

All das verbindet Saunders in einer rasend beschleunigten Sprache, die stets doch nur in ein Dead End führt. Wenn in der Erzählung „Schluss mit Firpo auf dieser Welt“ ein pubertierender Junge auf dem Fahrrad die ersten Hassfantasien auf einen Schulkameraden entwickelt, dann verendet er schon Sekunden später selbst, nachdem ihn ein Auto direkt gegen eine Eiche in Nachbars Garten geklatscht hat. Dabei wechselt Saunders auf dieser gerade mal neun Seiten langen Spritztour nie die Perspektive, immer ist es der kleine Cody, der selbst den Unfalltod als Triumph über seine Umgebung empfindet, die er verachtet.

Diese Verachtung ist für den Autor kein Mittel zum Zweck. Saunders weidet sich nicht an der Brutalität im Alltag, und er denunziert auch keine seiner Figuren, die doch so wenig von ihrem Dasein erwarten. Fast liebevoll schildert er an anderer Stelle einen in die Jahre gekommenen Friseur, der sich bei einem Date darüber sorgt, ob die Auserwählte im Bett sich wohl vor seinen stumpfähnlichen Füßen gruseln wird, weil ihm die Zehen fehlen. Doch zum Äußersten wird es sowieso nicht kommen, da ist Mutti vor.

Bevor er Anfang der Neunzigerjahre mit Kurzgeschichten im New Yorker und in Harper’s Magazine debütierte, hat Saunders in Schlachthöfen und auf Ölfeldern gearbeitet. Vielleicht stammt sein unverächtlicher Blick auf das gewöhnliche Elend aus dieser Zeit, vielleicht sind seine Fiktionen auch nur die Summe dessen, was in den USA täglich an gescheiterten Existenzen auf den „Vermischtes“-Seiten durch die Zeitungen geistert. Für einen Gegenwartsanthropologen sind diese Quellen ohnehin so wichtig wie die Arbeit im Feld. Bei Saunders ist der Themenpark tatsächlich zur zweiten Natur des Menschen geworden.

HARALD FRICKE

George Saunders: „Pastoralien“. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Berlin Verlag 2002, 204 Seiten, 18 Euro