Der letzte Sozialdemokrat

Oskar Lafontaine hat keinen Job, aber viele Ideen. Daher veröffentlicht er ein neues Buch. Sein Ziel: Nicht weniger als die Wiedergeburt der europäischen Linken und eine Reform der Weltwirtschaft

Die SPD braucht einen linken Außenstürmer: Sie braucht einen Oskar Lafontaine

von DETLEF GÜRTLER

Wenn man erst mal eine gewisse berufliche Fallhöhe erreicht hat, kann man gar nicht mehr arbeitslos werden. Auch wenn es so aussieht, es heißt ganz anders: Man sucht eine neue Aufgabe. Bei Oskar Lafontaine waren sowohl Höhe als auch Fall extrem ausgeprägt. Also kann der Mann gar nicht anders: Er muss eine Aufgabe suchen. Warum sonst würde er sich immer wieder in Talkshows, Zeitungskolumnen und Veranstaltungen jugendlicher Polit-Prügelknaben herumtreiben? Er hatte 1999 ein Buch geschrieben, „Das Herz schlägt links“, um sich und uns seinen abrupten Abgang aus Partei- und Regierungsspitze zu erklären – und damit sozusagen die schriftliche Begründung nachgereicht, die er Gerhard Schröder bei seiner Kündigung schuldig geblieben war. Wenn wir in dieser Terminologie bleiben, ist „Die Wut wächst“ ein Bewerbungsschreiben. Nur: für welchen Job? Beziehungsweise, da sich Oskar Lafontaine natürlich für jeden Job vom Chef des Internationalen Währungsfonds bis zum US-Präsidenten für geeignet hält: Für welche Aufgabe qualifiziert sich Lafontaine mit diesem Buch?

Fangen wir der Einfachheit halber mit den Aufgaben an, für die er sich disqualifiziert. Für jeden Job, bei dem es in irgendeiner Form etwas zu entscheiden gibt, bei dem Verantwortung übernommen oder hin und wieder gar ein Kompromiss eingegangen werden muss, ist der ehemalige Finanzminister absolut ungeeignet. Dieser Ekel, mit dem er über die „von der Verantwortung zerfurchten Gesichter“ seiner Exkollegen, insbesondere Joschka Fischers, schreibt, diese Selbstgeißelung dafür, dass er bei der Ökosteuer „kurz vor meinem Rücktritt diesem faulen Kompromiss zugestimmt hatte“, dieses schmerzliche Lächeln darüber, dass ohne ihn „Rot-Grün vor dem internationalen Finanzkapital in die Knie“ gehe – all das macht überdeutlich, dass Lafontaine keine dicken Bretter mehr bohren möchte.

Von den drei Primärtugenden, die Max Weber von Politikern forderte, Leidenschaft, Beharrlichkeit und Augenmaß, ist ihm eben nur die Leidenschaft überreichlich gegeben – Rechthaberei dagegen kam bei Weber nicht vor. Machen wir weiter mit einem Job, der passen würde, für den er sich aber wohl kaum engagieren ließe: „Contragnostiker“ für den Aktienmarkt. Denn was Lafontaine lobt, muss scheitern, was er beschimpft, wird sich durchsetzen, das hat langjährige Tradition und setzt sich auch in diesem Buch fort.

Seine geradezu schwärmerische Bewunderung für die US-Notenbank („Vorbild“) und deren Chef Alan Greenspan („Architekt des Beschäftigungsaufschwungs“) gibt da ein klares Signal: Sofort alle US-Aktien verkaufen, Greenspans Geldpolitik muss in einem Desaster enden! Dagegen empfiehlt es sich, rein contragnostisch, die Aktien von DaimlerChrysler und BMW zu kaufen, da beide von Lafontaine als „die großen Geldvernichter in der Automobilbranche“ bezeichnet werden.

Dann wäre da noch der bisher nicht besetzte Posten eines Chefideologen der Globalisierungsgegner. Aber just an dem hat Oskar Lafontaine sich mit „Die Wut wächst“ vorbeigeschrieben. Na klar, man hat gemeinsame Feinde, viele sogar, und bei Attac wird Oskar freundlicher empfangen als im SPD-Vorstand, aber trotzdem sind die radikalisierten Wohlstandskinder nicht seine Wellenlänge. Er will nicht bei der Kritik der Weltwirtschaft stehen bleiben, sondern seine eigene Weltwirtschaftspolitik machen – die er wiederum viel zu detailliert beschreibt, um dahinter eine solch amorphe Bewegung versammeln zu können. Das Amorphe mag er ohnehin nicht. Er möchte „die Signale von Seattle bis Genua“ in eine Wiedergeburt der europäischen Linken ummünzen, was wiederum mit einer Bewegung schwierig werden wird, die „sich nicht für ein politisches Programm vereinnahmen lassen will“. Was bleibt: die Gründung einer neuen Partei. So wie 1919, als sich die USPD als Partei der aufrechten Sozialisten von der regierenden SPD abspaltete. Lafontaine hat sich zumindest in eine Wut auf seine Partei hineingeschrieben, die einen endgültigen Bruch möglich machen könnte. Eine „neoliberale Steuersenkungspartei, die den Sozialabbau für die große Jahrhundertreform hält“, muss er ja wohl nicht mehr mit seinen Mitgliedsbeiträgen finanzieren. Einem Kanzler, der „bei einem Krieg mitmacht, in dem Unschuldige für ihre fundamentalistische Regierung bestraft“ werden, ist er sicherlich keine uneingeschränkte Solidarität mehr schuldig. Und in der Tat würde das Lafontaine’sche Glaubensbekenntnis ganz gut zu einer in moralischen Fragen ebenso hoch wie in Meinungsumfragen tief stehenden Partei passen. Ob sie nun USPD oder PDS heißt, spielt dabei kaum eine Rolle – Oskar ist bundesweit für 2 bis 10 Prozent gut. Aber genau das will er nicht.

Das sozialdemokratische Zeitalter ist für ihn eben noch nicht vorbei, „Frieden und soziale Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen“, und nicht die Mitte ist rot, sondern die Linke. Und dann wird sie auch gewählt: „Wer in Deutschland die Interessen der Arbeitnehmer und Rentner vertritt und bei diesen Wählergruppen glaubwürdig bleibt, hat immer die Mehrheit.“ Damit meint Lafontaine weder Attac noch die PDS, sondern natürlich die SPD. Seine Partei. „Die Wut wächst“ ist der verzweifelte Versuch, der SPD zu zeigen, dass sie einen wie ihn doch nicht auf der Straße stehen lassen darf, auf die er sich selbst gestellt hatte.

Und so Unrecht hat er damit auch nicht. Die Volkspartei SPD, die von der Wahltaktik immer wieder in die Mitte gedrängt wird, braucht eine Kraft, die genau in die entgegengesetzte Richtung zieht. Damit die Partei ihrer Wurzeln gewahr bleibt, und damit sich links von ihr keine Kraft dauerhaft festsetzen kann. Sie braucht also einen Außenstürmer, der den Job macht, den für die Union einst Franz Josef Strauß auf der rechten Seite erledigte. Sie braucht einen Oskar Lafontaine. Aber dessen Wut wächst. Und wenn die Sozialdemokratie ihn nicht rechtzeitig zurückholt, lässt er die Schröders und Eichels in der Mitte verdorren und macht seinen eigenen, so richtig linken Verein auf.

Damit stellt sich immer noch die Frage vom Anfang: Welcher Job? Wenn auch inzwischen etwas eingegrenzt – also auf welchen Posten könnte die Sozialdemokratie Oskar Lafontaine stellen, damit seine Fähigkeiten zur Geltung kommen, er aber keinen Schaden anrichten kann? Doch da es sich um ein Bewerbungsschreiben handelt, gibt Oskar seinen Genossen im vorletzten Absatz des Buches den alles entscheidenden Hinweis: „New Labour, Neue Mitte und die kraftlose Verteidigung der Arbeitnehmerinteressen sind beredter Ausdruck des Identitätsverlusts der politischen Linken. Die Sozialistische Internationale fristet ein Schattendasein, während in Seattle, Genua und Porto Alegre eine neue Bewegung die Programme für eine bessere Welt formuliert.“

Genau! Das ist der Job! Macht Oskar Lafontaine zum Chef der Sozialistischen Internationale! Er wird sie aus dem Schattendasein hinausführen, er wird es schaffen, dass Linkssein nicht mehr nur Attitüde, sondern wieder eine Haltung wird – und den sozialdemokratischen Regierungschefs kann es allerorten auch weiterhin herzlich egal sein, wie Oskar Lafontaine die Welt retten will.

Oskar Lafontaine: „Die Wut wächst. Politik braucht Prinzipien“, 272 Seiten, Econ-Verlag, München 2002, 22 €