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: Schluss mit dem Skandalspiel!

Jürgen W. Möllemann spielt mit antisemitischen Klischees, Martin Walser literarisch mit gegen einen jüdischen Kritiker gerichteten Rachefantasien. Eine Studie behauptet, die deutsche Nahostberichterstattung sei von antisemitischen Bildern infiziert. Die NS-Zeit scheint mal wieder, in einer paradoxen Zeitschleife, nicht ferner, sondern näher zu rücken.

 Erleben wir also die früher viel zitierte Wiederkehr des Verdrängten? Kaum. Die NS-Zeit ist spät, dafür aber umso umfangreicher in der bundesdeutschen Gesellschaft bearbeitet worden. Verdrängung kennzeichnete die 50er-, 60er- und 70er-Jahre, als mit Kiesinger und Filbinger vergessliche Exnazis die Demokratie repräsentierten. Was derzeit geschieht, ist etwas anderes: ein schwer fassbarer, virtueller Antisemitismus, der mit Unschuldslächeln, Heldenpose und Provokationsgestus gegen vermeintliche Verbote zu Felde zieht. Das verbindet, bei allen Unterschieden, Walser und Möllemann. Beide docken an verbreiteten, frei flottierenden Ressentiments an, beide geben dem Gefühl Ausdruck, dass man irgendwie nichts gegen Israel oder „die Juden“ sagen dürfe, weil es irgendjemand da oben verboten habe. Und beide haben damit Erfolg.

 Denn in diesem medial überhitzten Spiel profitieren die Provokateure. Und keiner beherrscht dieses Spiel so perfekt-perfide wie Walser. Sein Buch ist eine plumpe Spekulation mit – natürlich in Anführungszeichen gesetzten – antijüdischen Klischees. Er schielt auf einen Skandal – als dessen erstes Opfer sich Walser selbst zu präsentieren versteht. Es ist, wie bei Möllemann, das dumme Spiel mit „Tabus“, das auf unsere Erregungsbereitschaft zielt. Denn wer nun „Antisemitismus“ ruft, bedient genau jene medialen Schwungräder, ohne die Walsers „Tod eines Kritikers“ wäre, was es ist: eine öde Persiflage auf den Kulturbetrieb.

 Ein unschöner, durchaus ernster Nebeneffekt dieses Trubels ist die Inflation und Entleerung des Antisemitismusvorwurfs. Vor kurzem war diese Vokabel noch aus guten Gründen eine Art rhetorische Höchststrafe. Derzeit scheint sie zu einer kleinen Münze im Tagesgeschäft zu verkommen. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher nennt Walser einen Antisemiten – und vice versa. Welches Wort bleibt dann für Horst Mahler?

 Was tun? Alle Kritik an Israel unter Antisemitismusverdacht zu stellen ist falsch. Denn Möllemann braucht ja gerade die Fiktion, dass Kritik an Israel tabu sei. Ohne diese Chimäre wäre er nur, was er ist: ein proarabischer Lobbyist.

 So helfen im Moment nur Aufklärung und Augenmaß. Das klingt langweilig. Aber es ist besser, als weiter beim Skandalspiel mitzumachen. STEFAN REINECKE