„Wir bringen dem Markt keine Opfer“

In einer Woche beginnt in Kassel die documenta, für die verstärkt Künstler aus Afrika, Asien und Südamerika eingeladen wurden. Ist damit der Dialog der Kulturen eingelöst? Okwui Enwezor, Leiter der Documenta11, über das Ende einer westwärts gewandten Moderne und globale Emanzipation

Interview HARALD FRICKE

taz: Herr Enwezor, was hat Sie am meisten beeindruckt, als Sie zum ersten Mal auf einer documenta waren?

Okwui Enwezor: Wie Sie vielleicht wissen, habe ich nur die documenta X besucht. Aber die Art und Weise, wie diese Ausstellung wahrgenommen wird, ihre Legende, das hat als Kurator auch meine Sicht auf das Ereignis geprägt. Dennoch war ich verblüfft, wie klein etwa das Friedericianum von innen ist. Wichtiger als das Setting schien mir jedoch die Größe der Ideen, die Catherine David damals versammeln konnte. Es waren nicht unbedingt einzelne Arbeiten, eher die Tatsache, dass hier eine Ausstellung stattfand, an deren Komplexität und hohem Anspruch kein Museum der Welt sich sonst noch hätte messen können.

Sie haben zur Documenta11 angekündigt, dass Sie die Diskurse ausbauen wollen, für die Catherine David die Türen geöffnet hat. Heißt das: noch mehr Politik, noch mehr Konzept und noch mehr Theorie?

Bei der Ausweitung, wie ich sie mir vorstelle, trete ich nicht notwendig in die Fußstapfen von Catherine David. Es wird sicher Antworten auf das geben, was auf der documenta X Thema war – schon weil die Ausstellung so viele Kräfte gebündelt hat und einen etwas düsteren Ton gegenüber der Euphorie eingeschlagen hat, der bis dahin die documenta prägte. Nun denke ich, das Kunst sehr wohl die Menschen emanzipiert und dass sie uns ebensogut helfen kann, wenn wir uns von den traumatischen Ereignissen der Vergangenheit erholen. Deshalb waren documenta-Ausstellungen zunächst ja auch ein Glitzern am Horizont der Nachkriegszeit, galten überhaupt Neuanfang und Wiederaufbau damals als Zeichen, dass die dunklen Erfahrungen nun endgültig besiegt waren. Daher auch die Freude an den Räumen purer Sinnlichkeit, die Begeisterung für visuelle Erfahrungen.

Bei Catherine David war dann der Spaß vorbei?

Catherine David hat mit ihrer documenta diesen Zustand, dieses Verhältnis zur Kultur – speziell in Europa – analysiert, das war ihre Vorstellung von kritischer Kunst. Damit ist für mich ebenfalls klar, dass man nicht mehr hinter eine solche Aufarbeitung zurückkann: Die Ausstellung musste notwendigerweise leergeräumt werden, um wieder die Aufmerksamkeit zu schärfen. Wir befinden uns in einer Situation, in der sich der Diskurs, den ich das postkoloniale Verhältnis nenne, auszuwirken beginnt. Insofern geht es mir nicht bloß um Ausweitung, sondern um eine entschiedene Abweichung von dem, was bei Catherine David noch den Zustand bestimmt hat.

Hat David eine Ausstellung gemacht, die sich mit „Internationalität“ als Kategorie des Westens beschäftigte, während Sie Kunst in globalen Zusammenhängen sehen?

Wir wissen doch alle, dass die Vorstellung einer Welt, die sich als international definiert, eingebettet war in das, was man die Hochzeit der Moderne nennt. Die kulturelle Kartografie sollte ein wenig freizügiger aussehen und sich zumindest ein wenig über die Einflusszone der Nato hinaus erstrecken. Wenn man allerdings frühere documenta-Ausstellungen anschaut, fehlen Künstler aus dem Ostblock, da scheint mir ein ungeheurer institutioneller Gehorsam am Werk gewesen zu sein, der zur Ideologie des Kalten Krieges passte. In gewisser Weise konnte ein Begriff wie Internationalität nur im Rahmen des Imperialismusdenkens funktionieren.

Ein Denken, das durch die Globalisierung überwunden werden kann?

Was man heute global nennt, ist schwerer zu definieren, weil es sich um den Übergang von einer Weltordnung zur nächsten handelt. Aus diesem Grund habe ich den Begriff mit Blick auf die Documenta11 so gut es geht vermieden. Man muss aufpassen, dass Globalisierung nicht einfach aus schierer Begeisterung alle Feindschaften und auch kulturellen Widersprüche für null und nichtig erklärt, obwohl die Konflikte ganz normal weiter im Raum stehen. Man muss sich nur das Vorwort von Michel Foucault für die englische Ausgabe zu „Milles Plateaux“ von Deleuze/Guattari anschauen, wo er zunächst völlig unschuldig anfängt zu schreiben: „Zwischen 1945 und 1965 …“, dann hält er inne und setzt in Klammern „ich rede hier von Europa“. Wir lernen heute die Brüche und Fronten kennen, die sich in diesem Satz andeuten; das ist der Moment, wo das Globale in die Diskussion tritt.

Wird deshalb so viel Wert darauf gelegt, die Länder des Südens mit in den kulturellen Austausch einzubeziehen?

Wenn man sich die Verhältnisse heute anschaut, kann Kultur kein Geschenk mehr sein, das freizügig weggegeben wird. Kultur darf auch keine Medizin sein, die sich leicht schlucken lässt. Ich bin da pessimistisch, die Welt wird nicht wieder ganz, auch nicht durch eine documenta. Dennoch waren die Plattformen, die wir in verschiedenen Ländern als Vortrags- und Diskussionsforum durchgeführt haben, tatsächlich ein Ansatz, bei dem die globale Ausweitung mit der Vorstellung einer Welt einherging, die wir zusammenführen wollten. Es waren Sphären von und Sphären für Öffentlichkeit.

Die Teilnehmer an der Documenta11 sollen den Dialog der Kulturen in Kassel fortführen. Ist der Boden für eine solche Toleranz unter Gleichberechtigten nach dem 11. September nicht ziemlich dünn geworden?

Imperialistische Vorstellungen waren noch nie durch eine freundschaftliches Verhältnis zur Differenz gekennzeichnet. Während die einen nach mehr Gesprächsmöglichkeiten suchen, reden andere vom „Clash of Civilisations“. Aber um die Alternative Kampf oder Dialog geht es auch gar nicht: Seit dem 11. September wissen wir, wie sehr mit der Globalisierung der Welt auch sämtliche kulturellen Differenzen festgeschrieben worden sind. Dass Grenzen weiter bestehen, sieht man doch an der Politik in Europa! Auf eine paradoxe Weise ist Europa erwachsen geworden, indem es seine demokratischen Überzeugungen nach dem Zweiten Weltkrieg quasi in einem Akt des Exorzismus vorangetrieben hat. Es war ein Kampf um Souveränität, der sich in der Kultur fortschreibt. Hat nicht George Bataille festgestellt, dass wir Exzess und Verschwendung brauchen, um Positionen neu definieren zu können? Und sind nicht die Terrorakte von al-Qaida der Versuch, sich – egal mit welchen Mitteln – Souveränität zu verschaffen?

Kunstwerke waren sie jedenfalls nicht.

Schon deshalb wird die documenta weder auf die Achse des Bösen rekurrieren noch auf den „Clash of Civilisations“, zumindest nicht offensichtlich. Statt dessen versuchen wir zu zeigen, wie eine bestimmte Auseinandersetzung mit Kunst in einer vorgegebenen historischen Situation aussieht. Dafür stehen die Wegmarken, die wir mit den Plattformen entworfen haben, also „Demokratie als unvollendeter Prozess“, die Probleme der Wahrheitsfindungskommissionen, Creolité und Vermischung, zuletzt Urbanismus in den neuen Megacitys von Afrika. Aber all diese Fragen sind ja auch wiederum nur unter dem Deckmantel des Imperialismus herangewachsen. Daher haben mich bei der Auswahl Künstler interessiert, die an solchen Vorstellungen arbeiten – und nicht der Kunstmarkt mit seinen Vorgaben. Wir werden den Markt zwar nicht leugnen, aber wir werden ihm auch keine Opfer bringen.

Apropos Demokratie und Kunst: Ist der Künstler als Outlaw und Außenseiter der Gesellschaft, wie er in der Moderne sehr geschätzt wurde, endgültig ein Auslaufmodell?

Ich halte schon an einer Demokratisierung fest – vielleicht nicht im Sinne der Künstler, aber ganz sicher in Bezug auf den Ausstellungsraum als Ort der Kulturproduktion. Wir haben bewusst Gruppen eingeladen, unter anderem Raqs Media Collective aus Delhi, Park Fiction, Hamburg, oder die kongolesische Groupe Amos aus Kinshasa. Es ist kein Zufall, dass viele dieser Gruppen aus den so genannten Entwicklungsländern kommen. Für sie ist künstlerische Praxis ein Beitrag zur Zivilgesellschaft, jede Trennung von Kunst und Leben käme da einer extremen Verarmung in ihrem moralischen Engagement gleich. Das heißt aber nicht, dass der Künstler als ein Individuum, das sich außerhalb dieses Rahmens stellt, um das System der Gesellschaft zu analysieren oder daran Kritik zu üben, nicht auch bei uns willkommen wäre. Ich wehre mich nur gegen die Idee der reinen künstlerischen Autonomie, das ist zwar eine fantasievolle Vorstellung, aber nicht sehr hilfreich.

Und wovon erwarten Sie sich Hilfe?

Es hat sich doch nichts geändert: Kunst kommt nie ohne die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus, sie kann außerhalb davon vielleicht ein bisschen Lärm produzieren, aber letztlich geschieht das immer in Folge von Institutionen. Nein, der Raum der Kunst ist einer der wenigen Orte, an dem sich soziale oder politische Kritik formieren kann. Die Radikalität von Kunst heute besteht nicht im Aufruhr, den sie erzeugt, sondern in dem Engagement, das sie befördert. Das kann auf abstrakte Weise geschehen oder im gegenseitigen Einvernehmen von Kunst und Gesellschaft, da will ich aus der Ästhetik keine Politik machen, das wäre wieder nur Verarmung. Also haben wir uns für Kunst entschieden, die sich über ihre eigenen Bedingungen bewusst ist, was bei der Auswahl zu einem Schwergewicht auf Fotografie und verwandte künstlerische Praktiken geführt hat. Außerdem haben wir besondere Aufmerksamkeit auf einen dokumentarischen Stil gelegt, das wird man bei den Filmen merken. Damit sollen andere künstlerische Ausdrucksformen nicht als falsch verurteilt werden, uns geht es allerdings darum, mit Kunst sichtbar zu machen, wie Bilder funktionieren.

Das klingt nach einem Realismus, bei dem nicht wirklichkeitsgetreue Darstellung das Thema ist, sondern die Frage, wie man sich zu einer eben auch durch die Kunst miterzeugten Realität verhält.

Sehen Sie, Fotografie ist doch überhaupt die Kunstform, die mehr als jede andere auf Tradition beruht. Das mag vielleicht etwas schwierig zu verstehen sein, aber in der Fotografie ist die Beschäftigung mit dem Bild als solchem stets im Werk anwesend – von der Komposition bis zum Licht und den Kontrasten. Obwohl manche dieser Arbeiten von klaren ästhetischen Normen geleitet sind, können sie eine unglaublich hohe künstlerische Relevanz besitzen. Jetzt geht es mit der documenta darum, zu untersuchen, ob und wie eine solche Kunst in Bezug auf die Themen funktioniert, die wir mit den Plattform-Veranstaltungen vorgegeben haben. Sie sollen diese Fragestellungen nicht angemessen abbilden, mich interessiert da mehr die Unmittelbarkeit in der Ausstellung und weniger irgendeine kontemplative Stimmung, die sich mit Kunst erzeugen lässt.

Demnach wäre der von Ihnen eingeladene Allen Sekula mit seinen Fotoessays zum Niedergang der Schiffindustrie ein gutes Beispiel für Kritik an der Ökonomie, die als Kunstwerk daherkommt?

Es könnte auch ein Künstler wie der britische Fotograf Richard Billingham sein, der die sozialen Verhältnisse seiner Familie in Genreszenen übersetzt – und der dennoch nicht in Kassel beteiligt ist. Statt dessen haben wir David Goldblatt eingeladen oder William Eggleston, bei denen man ein besonderes Engagement spürt, das weit über die Produktion von Images hinausreicht. Sie untersuchen mit dem Bild immer auch die Situation, die sie dazu geführt hat, dieses Bild zu machen.

In den letzten Jahren haben Kuratoren wie Hans Ulrich Obrist Kunst zu einem Laboratorium erklärt, dass tatsächlich verwertbare Ergebnisse bringt, ähnlich wie in wissenschaftlichen Forschungsbereichen. Soll Kunst nun lieber Wissen oder Bewusstsein erzeugen?

Es ist immer gut, wenn man neue Zugänge findet, die sich den gängigen Erwartungen widersetzen. Das gilt auch für die Arbeit des Kurators, der seine Ausstellungen ja nicht ewig nur nach einem absehbaren ästhetischen Mehrwert ausrichten kann. Wenn sich daraus ein größerer intellektueller Austausch ergibt, umso besser.

Das Konzept für die Documenta11 hat mit Wissenschaftlichkeit wenig zu tun, aber viel mit Offenlegung – was sind die intellektuellen Entfaltungsmöglichkeiten, die die Gegenwart bereit hält und was ist das künstlerische Pendant dazu? Wir wollen diese Verhältnisse zum Sprechen bringen – miteinander. Die Lösung liegt nicht in einer bestimmten Philosophie oder einer Richtung von Kunst, sie liegt darin, einen Raum zu schaffen, von dem aus sich diese Formen des Wissens artikulieren. Manchmal kann dieser Raum die Disziplinen als völlig unvereinbar erscheinen lassen, und manchmal macht er sie zu Alliierten. Auf keinen Fall aber wird bei der Documenta11 die Kunst der alles dominierende Faktor sein.

Sonst hätte es wohl auch eine andere Dramaturgie gegeben als die über ein Jahr verteilten Theorie-Plattformen. Könnte es nicht sein, dass die Documenta11 am Ende einfach eine soziale Architektur errichtet, in der Kunst, Theorie und Politik auf Zeit, nämlich für 100 Tage ein Zuhause finden – mitten in der Öffentlichkeit von Kassel?

Ja, das ist wahr. So wie Sie es sagen, geht das Bild auf. Wir konstruieren einen Ort, an dem das, was Pierre Bourdieu „das Feld der kulturellen Produktion“ nennt, mit der Öffentlichkeit verschmelzen kann. Das ist der beste denkbare Plan für eine documenta.