Dem Nazi-Schick widerstehen

1963 hat Rolf Hochhuth mit seinem Stück „Der Stellvertreter“ die Kirche für ihre Mitschuld am Holocaust angeklagt. Costa-Gavras lässt dagegen in seiner Verfilmung SS-Offiziere und Jesuitenpater am Massenmord verzweifeln

Zwei Männer im Herz der Finsternis, die, jeder auf seine Art, unter Einsatz ihres Lebens für das Gute kämpfen. Umgeben sind sie von einer Mauer des feigen Schweigens, ihre Widersacher erweisen sich von diabolischer Bösartigkeit, allgegenwärtig und zynisch.

Das ist der Stoff, aus dem Thriller sind. Costa-Gavras scheint sich für solche Stoffe immer besonders interessiert zu haben, für die Art von Kampf, die sich mit den entwickelten Formen des Spannungskinos erzählen lässt. Dass er ein Theaterstück verfilmt, das Anfang der 60er-Jahre Furore machte und die Rolle des Papstes und der Kirche im Kampf gegen den Faschismus anprangert, liegt deshalb nahe und befremdet sogleich: Antiklerikal und antinazistisch im Inhalt, das mag seine Sache sein. Aber dafür ein Theaterstück wählen, das sich in einer Kreuzung von Dokumentation und „christlichem Trauerspiel“ – so der Untertitel bei Hochhuth – mit den Darstellungsproblemen des Holocaust auseinander setzt?

Wie Costa-Gavras verfährt, wird bereits in der Eröffnungssequenz deutlich: Ein Mann, ganz offensichtlich getrieben von höchster Verzweiflung, läuft durch Gänge, an endlosen Reihen von Säulen und Türen vorbei, platzt in eine Versammlung, ergreift das Wort und erschießt sich. Kein Selbstmordattentat, sondern der Versuch eines Fanals, ein Opfer der extremsten Selbstlosigkeit, das andere zum Handeln aufrufen will. Es gibt im Film keine weiteren biografischen Daten zu diesem Fall, keine personifizierenden Auflösungen, einzig die Situation als solche bleibt über die gesamten 130 Minuten des Films bestehen: Es geht um den Versuch, sich Gehör zu verschaffen, darum, andere zum Handeln zu bewegen. Im Zentrum des „Stellvertreters“ stehen deshalb auch nicht die Schicksale des „realen“ SS-Offiziers Kurt Gerstein und des „fiktiven“ Jesuiten Riccardo Fontana, sondern die Lage, in die sie geraten, als sie ihr Wissen um die Vernichtung der Juden in die Weltöffentlichkeit bringen wollen.

Wider Erwarten ist „Der Stellverteter“ deshalb kein Gefühlskino geworden. Die vordergründige Dramatik von dynamischen Auf- und Abtritten – der Papst und sein Gefolge, der SS-„Doktor“ und seine Adjutanten –, rührende Familienszenen und glutvoll getauschte Blicke, die von Streichorchestern professionell untermalt werden, das alles entwickelt sich nicht zum Melodram des vergeblichen Kampfes der wenigen Tapferen. Am ergreifendsten, wenn man so will, sind nämlich die Aufnahmen der fahrenden Züge, die den Film strukturieren; immer wieder lösen sich Sequenzen von geschlossenen Waggons mit denen von leeren Waggons ab, deren Türen zu beiden Seiten hin geöffnet sind, so dass man durch sie hindurch die Landschaft sieht – die reine Auslassung konkreter Benennung, die kaum konkreter ins Bild gesetzt sein könnte.

Überhaupt reibt sich in Costa-Gavras „Stellvertreter“ die glatte Oberfläche des konventionellen Kinos auf seltsame Weise mit den theaterhaften Figuren: Sie sind ohne psychologische Tiefe, aber voller Auseinandersetzung. Ob es sich um die Vaterfiguren handelt, der eine wohlgesinnt, aber feige, der andere überzeugter Nazi, in seinem Wahn aber schon wieder bemitleidenswert, oder um gut meinende Freunde und übel gesinnte Feinde, es sind auf ihre Art letztlich alle „Stellvertreter“ für Haltungen, die in Rollenbilder umgesetzt werden. Diese Form der ästhetischen Pädagogik wäre auf dem Theater heute vielleicht gar nicht mehr auszuhalten, so wenig wie Costa-Gavras geradlinige Engagiertheit in Reinform; die krude Mischung jedoch, die sich im „Stellvertreter“ beobachten lässt, ist auf einmal unerwartet spannend.

Zum großen Teil liegt das an Ulrich Tukur, der sich ganz auf die widersprüchliche Figur des Kurt Gerstein einlässt, ohne dem Zuschauer die Überlegenheit des Schauspielers demonstrieren zu müssen. Der SS-Offizier, der für die Lieferung des Zyklon B verantwortlich war, wird bei ihm nicht zum Gutmenschen, sondern bleibt bei allem seelenvollen Engagement rätselhaft, einerseits überschwänglich, andererseits kaltblütig taktisch, ein komischer, zerrissener Typ. In der Reihe der deutschen Schauspieler, bekannt aus Funk und Fernsehen, die sich hier ein Stelldichein in Naziuniformen geben, ist er der einzige, der darin nicht eitel wirkt. In gewisser Weise lohnt sich dieser Film schon allein, um die üblichen Ärzte, Rechtsanwälte und sonstigen Familienväter des Serienalltags dabei zu betrachten, wie sie mit dieser Aufgabe fertig werden: Dem Nazi-Schick widerstehen – ohne einfach polternd die Bösen zu geben oder knallchargierend ins Humoristische auszuweichen. So schwer es einerseits fällt, den „Stellvertreter“ als gelungenen Film zu bezeichnen, so viel lässt sich ihm doch im Kontext aktueller Diskussionen abgewinnen.

BARBARA SCHWEIZERHOF

„Der Stellvertreter“. Regie: Costa-Gavras. Nach einem Stück von Rolf Hochhut. Frankreich/Deutschland 2002, 130 Min. Mit Ulrich Tukur, Mathieu Kassovitz, Ulrich Mühe u. a.