Gespenstertanz

Leibhaftige mit Echthaar: Entlang der prekären Grenze von Kunst, Religion und Wissenschaft versammelt die Ausstellung „Ebenbilder“ im Ruhrlandmuseum Essen Kopien des Körpers

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Künstler wollte Wilhelm Meister werden und dem bürgerlichen Mittelmaß als Schauspieler entfliehen. Das erzählte Goethe in den „Lehrjahren“, die ein voller Erfolg bei ebenjenem Lesepublikum waren, dem dieser romantische Weg nicht offen stand. Nur mäßiges Interesse fanden hingegen die „Wanderjahre“, in denen Wilhelm sich zur Disziplin und Nützlichkeit bekehren lässt, Arzt wird und nach Amerika auswandern will. Mitreisender in die Neue Welt war ein Künstler, der sich auf anatomische Wachsmodelle verlegt hat, denn „aufbauen bedeutet mehr als trennen“. Künstler zu medizinisch-technischen Hilfsgeistern: ein nicht ganz überzeugender Versuch, die Bekehrung der Kunst zur Vernunft zu illustrieren.

Goethe wird zitiert an den Wänden der Ausstellung „Ebenbilder“ im Ruhrlandmuseum Essen: „… gefallene Mädchen in tausend Stücke anatomisch zu zerfetzen, will sich nicht mehr ziemen.“ In den Vitrinen darunter lassen sich die künstlich geschaffenen Körper säuberlich aufklappen und die Organe betrachten. Dennoch, wo immer der Körper mit detailversessener Genauigkeit nachgeahmt wird, sind die Geschichten von Verbrechen, Skandal und des Irrationalen nie weit. Dass die Aufklärung stets auch ihr Gegenteil im Schlepptau hatte, ist eine der Erkenntnisse, die mit den „Ebenbildern“ illustriert wird. Ihr populärer Unterhaltungswert durchkreuzt oft die erklärten Absichten ihrer Erfinder. Vor allem das 19. Jahrhundert ist reich an einer doppeldeutigen Pädagogik, die in den Figuren aus Wachs zum Ausdruck kommt. Madame Tussaud war die erste Prinzipalin eines reisenden Wachsfigurenkabinetts, die neben den Porträts der Königsfamilie die in Wachs reproduzierten Köpfe jener Revolutionäre mitbrachte, die mit der Guillotine hingerichtet worden waren. Die abgeschlagenen Köpfe von Robespierre und Saint-Just mit blutigen Halsstümpfen und befleckten Kinnbinden gleichen Trophäen einer royalistischen und antirevolutionären Propaganda. In England vor allem hatte Madame Tussaud damit in den Jahren nach der Französischen Revolution großen Erfolg. Die Gesichter waren von Totenmasken abgegossen. Drei solcher Köpfe landeten später im „Königlichen Ethnographischen Museum“ von Dresden und wurden dort zu anatomischen Demonstrationen herangezogen.

Jetzt sind sie in einer Vitrine mit Büsten aus der Sammlung des Arztes, Malers und Naturphilosophen Carl Gustav Carus aufgestellt, übrigens auch ein Freund Goethes; die Büsten belegen die physiognomischen Gesichtszüge, die man bestimmten Krankheiten zuordnen zu können glaubte: ein Erotomane, ein Idiot, ein Selbstmörder durch Erstechen. Krankheit, Verbrechen und Revolution: In den populären Bildmedien begegnen sie sich. In diesen Bildern wurde abgespalten, was dem Ideal widersprach.

Die Geschichte der Wachsfigur hat aber eine wesentlich differenziertere Vorgeschichte, wie die Ausstellung „Ebenbilder“ beweist. In ihnen berührt sich das magische Vertrauen, über ähnlich geformte Glieder in Wachs eine Beziehung zum tatsächlichen Körper herstellen zu können wie in den Votivgaben, mit dem Versuch, in der Abbildung von Verstorbenen etwas von ihrem Leben retten zu können. Dem Kampf gegen die Zeit und den Verfall des Körpers ist das erste, anrührende Kapitel der Ausstellung gewidmet.

So beginnt die Ausstellung dort, wo die Überreste eines Körpers mit Hilfe der Kunst für die Reise in die Ewigkeit präpariert wurden. Aus Jericho und Ain Ghazal in Jordanien stammen zwei Figuren aus Knochen, Gips und Schilf, die zu den ältesten Repräsentationen des Körpers überhaupt gehören (um 7.200 v. Chr.). Der Schädel wurde nach dem Verfall des Fleisches plastisch nachmodelliert, die Augen durch Muscheln ersetzt. Welchem Kult diese Aufbereitung der Reste diente, ist ungewiss. Weil sich aber in das Material mit Dellen und Rissen die Zeit ebenso eingegraben hat wie einst in den Körper, den sie vertreten sollen, bewegen sie uns als Spuren einer Geschichte, die immer noch andauert: von der Vergeblichkeit, über den Tod hinaus etwas retten zu wollen.

Die kleine, in Bändern und mit vergoldeten Knöpfen geschmückte Mumie eines Knaben, vor 2.000 Jahren fast in einer ägyptischen Oase beigesetzt, oder ein barockes „Betrachtungssärglein mit Wachsgerippe“, verlängern diesen Text – obwohl in unterschiedlichen Intentionen und Glaubenskontexten geschaffen: Die Mumifizierung setzte auf die Bewahrung des Körpers für seine Weiterexistenz im Jenseits. Das Schausärglein dagegen erlaubte es, die große Angst vor dem Tod in kleinen Portionen wohl zu dosieren, indem man täglich einen Blick warf auf diesen wurmzerfressenen Leib.

Für Jan Gerchow, den Kurator der Ausstellung „Ebenbilder“, sind die lebensechten Nachahmungen nicht nur ein Thema kunstferner Bildpolitiken. Sie irritieren vielmehr auch den Diskurs der Kunst: „Körperimitate sind nämlich nicht nur Artefakte, die vorgeben, Lebewesen zu sein; es sind auch Zeichen, die vorgeben, keine zu sein.“ Die Ausstellung endet mit wenigen Beispielen der zeitgenössischen Kunst, in der die naturalistische Kopie gerade mit dieser Fähigkeit, diese alte Vereinbarung über den Zeichencharakter zu stören, eine neue Karriere gemacht hat.

Der britische Künstler Ron Mueck begann vor fünf Jahren mit „Dead Dad“, dem toten Vater nachgebildet, einen neuen Verismus. Die veränderten Größenverhältnisse lassen nie einen Zweifel daran, dass seine Figuren aus Polyesterharz Kunstfiguren sind, und dennoch erschrickt man über ihre „Wirklichkeit“. Dabei ist oft nur ein Detail zu sehen, wie bei der Skulptur in der Ausstellung in Essen: das Gesicht eines Mannes, der mit untergeschlagenen Beinen sitzt und nach unten blickt. Sein Körper verschwindet unter einem weißen Tuch und könnte genauso gut nicht existieren.

Der regelmäßige Schreck über die Skulpturen Muecks löst Zweifel aus, was man eigentlich im Alltag noch vom anderen wahrnimmt: Als ob man ein Zuviel an Details nicht mehr verkrafte, als ob man den Umgang mit realen Körpern kaum noch aushalte und Menschen erst ertrage, wenn sie sich ein wenig verallgemeinert und in abstraktere Linien gepackt haben.

„Ebenbilder“, Ruhrlandmuseum Essen, bis 30. Juni, Katalog 29,80 Euro