Kunst = kollektives Bildgedächtnis

von HARALD FRICKE

Der Anruf kam aus Köln. Ob er am Freitag Zeit für die „Harald Schmidt Show“ habe. Zwei Wochen vor Ausstellungsbeginn wollte Schmidt mit Okwui Enwezor, dem Leiter der 11. documenta, über den Zustand zeitgenössischer Kunst sprechen, auf Englisch, versteht sich, und ohne Übersetzung, irgendwo zwischen absurder Comedy und Seminarrunde. Doch dann wurde es im Terminkalender Enwezors eng, und so ging der Großevent nicht auf Sendung.

Nanu, ein documenta-Chef, der die strengen Ansprüche von Theorie und politischer Spannkraft auch bei künstlerischen Arbeiten anlegt – und sich im Fernsehen als parlierender Entertainer seine 15 Minuten Ruhm holt? Nein, der gebürtige Nigerianer und Politikwissenschaftler ist kein Mann für die Prime Time, und er bringt auch nicht wirklich Einschaltquote. Aber er weiß, dass ein Ereignis wie die documenta Aufmerksamkeit braucht: Catherine David hatte als Leiterin der dX vor fünf Jahren mit der Presse gestritten. Der Ärger lohnte sich, mit 631.000 Besuchern wurde ein Rekord erzielt. Die enorme Zahl war auch Grundlage für die Planung der Documenta11. Sollten weniger Gäste kommen, droht ein Minus.

Entsprechend nachdenklich sitzt Enwezor mit seinem sechsköpfigen Kuratorenteam zur Pressekonferenz vor der Eröffnung auf dem Podium und erklärt einmal mehr, wie man sich „die postkoloniale Konstellation“ vorzustellen habe, in der Kultur nicht versöhnlich stimmt, sondern von Asien, Afrika oder Lateinamerika aus gleichwertig mit dem Westen über Differenzen in der Weltordnung spricht.

Wer sich mit solchen Verschiebungen beschäftigt, gilt schnell als verkopft und spröde, ohne Lust auf sinnliche Kunst, womöglich auch als staatstragend, während Kultur bislang als Bastion für Individualität, Eigenbrötlertum und Autonomie geschätzt wurde. Diese Vorstellungen haben sich mit der Documenta11 erledigt: Bevor die Ausstellung heute eröffnet, gab es Diskussions-„Plattformen“ in Wien, Berlin, New Delhi und auf der Karibikinsel St. Lucia, auf denen über die Funktion der Wahrheitsfindungskommissionen nach Kosovo- und Ruandakrieg gesprochen wurde oder über Stadtplanung in afrikanischen Megacitys. Selbst der 600-Seiten-Katalog, der sich den 118 Künstlern und Künstlerinnen widmet, die als „Plattform5“ in Kassel ausstellen, beginnt mit Agenturfotos aus den fünf Jahren seit der letzten documenta: Palästina, Sierra Leone, Milošević in Den Haag, und immer wieder die Rauchschwaden vom 11. September.

An den fünf Ausstellungsplätzen, über die sich die Documenta11 ausgebreitet hat, bleiben die brennenden Türme des WTC allerdings unsichtbar. Wozu die Ikonen des Schreckens noch plump verdoppeln? Auch Kunst in Zeiten der Krise ist immer Kunst, die das Wahrgenommene nicht deckungsgleich in ein Ereignisbild überträgt, sondern mit jedem Image nach Möglichkeiten der Reflexion sucht. Das ist das Problem kultureller Repräsentation: Wie lassen sich die Strukturen vermitteln, die das Sichtbare verständlich machen? Gibt es eine Demokratie der Bilder – und Kunst als kollektives Bildgedächtnis? Dafür interessiert sich Enwezor, deshalb legt er mit seiner Auswahl so viel Wert auf Künstler, die sich mit politischen Vorgängen beschäftigen. Und auf Künstler, die diese Vorgänge jenseits der Aktualität in visuelle Erzählformen überführen – das ist der „Dialog der Kulturen“, den Enwezor mit seiner documenta propagiert.

Da ist der 1942 in Benin geborene Georges Adéagbo. Er hat in den Lagerräumen der alten Binding-Brauerei, die für die documenta hinzugewonnen wurden, eine ausufernde Sammlung installiert. Europäische Zeitschriften häufen sich neben afrikanischen Skulpturen, naiv gemalte Königsporträts werden mit religiösen Reliquien in eine Reihe gehängt. Kein Zweifel, bei Adéagbo soll die Bildwelt gebändigt und vor der Auflösung gerettet werden.

Auch Adéagbo entscheidet über die Auswahl seiner „Entdeckungen“, verzichtet aber auf Hierarchien, sodass – fast wie im Leben – alle durcheinander reden. Denn Adéagbo respektiert das Palaver, die vermeintliche Ordnung ist bei ihm ein Balanceakt mit dem Material, das er anhäuft; die fortwährende Diffusion spiegelt wider, dass es außer dem Arrangement keine Logik gibt, die die Informationsschichten zusammenhält. Das ist die Natur der Zivilisation, ob in Afrika oder Europa: Das Räderwerk der Kommunikation steht nie still.

Ein anderer Ort, ein anderes Archiv. Die deutsche Konzeptkünstlerin Hanne Darboven füllt mit sauber beschriebenen DIN-A4-Blättern die Rotunde im Fredericianum über alle drei Stockwerke. Es ist eine feine Wellenbewegung aus fortlaufenden Zahlen, Strichcodes und abstrakten Texturen, die fortschreiben, was jenseits des Weltlaufs geschieht: Zeit vergeht und lagert sich dennoch ab, als künstlerische Handschrift. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt On Kawara im ersten Stock des Gebäudes. Er hat eine gläserne Box gebaut, in der zwei Sprecher vom Hessischen Rundfunk täglich Jahreszahlen ablesen, die live im Radio gesendet werden: „Eine Million Jahre – Vergangenheit“ beginnt 998.031 vor Christus und wird 1969 enden. Das sind philosophische Dimensionen, bei denen sich der Besucher zu Recht fragt: Wo bleibt der Dialog?

Tatsächlich muss man sich bei Enwezors documenta gedulden, das Repertoire ist einfach zu umfangreich. 450 Werke von 118 Beteiligten aus fünf Kontinenten – wer wollte da ernsthaft an die Hand genommen werden im Thesenpark der Kunst? Man wird stöbern müssen: statt auf Clash und Konflikte setzt Enwezor auf subtile Übergänge. Nachdem man eine Weile Mona Hatoums Environment betrachtet hat, das vollständig mit Stromkabeln verbunden ist, machen plötzlich die grellweiß leuchtenden Stadtfotos von Santu Mofokeng aus Johannesburg Sinn: Beide inszenieren gesellschaftlichen Ausschluss – einmal als Symbol für die Situation in den Palästinensergebieten, das andere Mal als fotografischer Kommentar auf die andauernde soziale Abschottung der südafrikanischen Townships.

Damit es nicht beim bloßen Widerspruch bleibt, wurden Modellstädte von Bodys Isek Kingelez im Raum platziert, die en miniature einen Ausweg zeigen sollen aus der Segregation. Doch damit läuft die Ausstellung auch Gefahr, den Dialog der Kulturen zu illustrieren, anstatt die Differenzen schärfer zu konturieren. Das mag mancherorts an einer überhasteten Zusammenstellung liegen: Neben dem monumentalen Sperrholzturm von Manfred Pernice wirken Ryuji Miyamotos geometrisch vollendete Erdbebenfotos aus Kobe wie eine Parodie auf architektonische Utopien.

Überhaupt gleitet die documenta an einigen Stellen ab, wenn sie aus dem Gestus der Ergänzung von Werk zu Werk in pure Addition künstlerischer Aussagen mündet. So breitet Fareed Armaly gemeinsam mit dem palästinensischen Filmemacher Rashid Mashrawi über ein ganzes Stockwerk der documenta-Halle Recherchen zum Leben in den Flüchtlingslagern aus, doch der Besucher fühlt sich zwischen so viel Infos in der leeren Architektur bald verloren. Das ist keine Aufklärung, sondern Überwältigung.

Noch unbehaglicher ist die Unmenge an Videoinstallationen, für die man in der Binding-Brauerei durch ein nicht enden wollendes Blackboxlabyrinth steigen muss. Irgendwann sind selbst die skurrilen Tipps einer britischen Orchideenzüchterin, die der türkische Filmemacher Kutlug Ataman beim Veredeln ihrer Blumen beobachtet hat, nur eine fleißige Langzeitstudie. Vollends übers Ziel hinausgeschossen ist der Belgier Jef Geys, der mit seinem 36 Stunden unentwegt projizierten Fotomarathon eher ins Guinness-Buch gehört als auf die documenta.

Draußen in den Karlsauen dann plötzlich: diese Ruhe. Hier steht Ken Lums Spiegel-Irrgarten, hier wird der Dialog zum trickreichen Spiel mit dem Betrachter. Immer nur sieht man sich selbst, manchmal sind Sätze in die Spiegel graviert: „I have no friends“ oder „Life is not worth living“. Dass es nicht so sein muss, merkt man, wenn man den Korridorwirrwarr wieder verlassen hat. Wozu sonst gäbe es einen Ausgang, der nicht mit dem Eingang identisch ist? Man kommt voran, man geht weiter. Im Dialog mit Lums Kunst zwar, aber geleitet allein von den eigenen Füßen.