Rot ist die Farbe der Entspannung

Das niedersächsische Festival „Theaterformen“ will mit Aufführungen in Braunschweig und Hannover einen Zugang zu anderen Kulturen schaffen, bei dem nicht immer nur die Sprache für ein Mehr an globaler Kommunikation sorgt. Manchmal reicht auch ein getanztes Gefühl – oder eine rote Treppe

Medeas Verwandte tragen Flickenkleider, die Griechen tragen Maßanzüge

von SILKE LODE

Wie eine Achse verbindet der Steinweg die Altstadt von Braunschweig mit seinem Staatstheater. Oft ist Niedersachsens Minister für Kultur und Wissenschaft hier schon entlanggefahren, doch dieses Mal sah Thomas Oppermann nicht die gewohnte Theaterfassade vor sich. „Wow!“, dachte er, als die rote Treppe in sein Blickfeld kam. „So viel Rot ist selbst für 'nen Roten nicht in einer Sekunde zu verkraften.“ Das meinte er durchaus ernst bei der Eröffnung des Festivals Theaterformen 2002, einer Veranstaltung der Theater in Braunschweig und Hannover.

Schon am ersten Abend hat sich diese Treppe zum heimlichen Herz des Festivals gemausert. Schließlich will auch Festivalleiterin Veronica Kaup-Hasler mit ihrem Konzept neue Zugänge zum Theater schaffen und einem größeren Publikum die Schwellenängste nehmen. Sie beauftragte deshalb das Architektenbüro Kühn Malvezzi, das ebenfalls für die bauliche Gestaltung der diesjährigen documenta zuständig ist, mit der äußeren Umgestaltung der beiden Häuser. Eigentlich ist es eine simple Konstruktion: ein Stahlgerüst, bespannt mit rotem Teppich. Nun sitzen die Menschen schon lange vor und auch noch nach den Vorstellungen auf den Stufen, genießen die Abendsonne, den Blick auf die Stadt und ein kühles Bier.

Eine der zentralen Ideen des Festivals liegt bereits im Namen: Theaterformen. So sind neben klassischen Formen des Sprechtheaters Arbeiten bildender Künstler zu sehen, die in sich theatrale Momente haben. Wie Yang Zhenzhongs Videoinstallation „I will die“. Menschen in der ganzen Welt werden seine Akteure, wenn er sie auf der Straße, im Café oder bei der Arbeit den Satz „Ich werde sterben“ sprechen lässt. Oder der Australier William Yang, der mit Dias und Musik die Geschichte seiner Suche nach familiären Wurzeln in Australien, den Vereinigten Staaten und China erzählt.

Selten sind Theaterproduktion aus anderen Sprachräumen bei uns zu Gast, noch seltener stehen sie im Zentrum eines ganzen Festivals. Dieses vielleicht wichtigste Kriterium ihrer konzeptionellen Arbeit erklärte Veronica Kaup-Hasler während der Eröffnungsfeier: „Die Globalisierung von Wirtschaft, Handel und Kommunikation suggeriert Kenntnis von Internationalität.“ Das Theater wiederum bietet für sie die Möglichkeit, scheinbar Bekanntes neu wahrzunehmen, langsamer und differenzierter als in medialen Darstellungen.

An Internationalität mangelt es in Braunschweig und Hannover in diesen Tagen wirklich nicht. Künstler aus Ungarn und Südafrika, Großbritannien und den Vereinigten Staaten, China, der Schweiz und Deutschland reichen sich die Klinke, einige Aufführungen sind auf Kroatisch, Spanisch, Englisch oder Flämisch. Die Sprachverwirrung ist bei den Zuschauern trotz der Übertitel groß, in der Eröffnungspremiere „Mamma Medea“ von Gerardjan Rijnders in der flämischen Neufassung von Tom Lanoye lichten sich die Reihen nach der Pause deutlich.

Lanoye, der mit der Bearbeitung „Schlachten!“ der Rosenkriegsdramen von Shakespeare in Deutschland bekannt wurde, setzt mit seiner Erzählung anders als die antike Vorlage von Euripides bereits in Medeas Heimat Kolchis ein. Dadurch zeigt er Medea nicht nur als verletztes, mordendes Ungeheuer, sondern auch als liebende Frau, die von einer gemeinsamen Zukunft mit dem Fremden Jason träumt. Die kulturellen Unterschiede zwischen den Griechen, die sich als Träger der Zivilisation fühlen, und den Kolchern, die ihnen als urige Barbaren erscheinen, werden durch diesen Erzählansatz sehr deutlich. Die szenische Umsetzung mit den bunten Flickenkleidern von Medeas Verwandten im Kontrast zu den Maßanzügen der Griechen ist unmissverständlich. Nur Lanoyes sprachliche Verdeutlichung durch verschiedene Dialekte geht für das deutsche Publikum leider verloren.

Nicht immer ist das Textverständnis ausschlaggebend für eine erfolgreiche Aufführung. Paradebeispiel ist Joachim Schlömers „Guerra d'Amore“. Für die Innsbrucker Festwochen Alter Musik hat er 1999 mit René Jacobs Madrigale von Claudio Monteverdi szenisch-choreografisch umgesetzt. „Wenn man mit Tanz in der Oper arbeitet, dann muss man auch das Stück selber erfinden, das macht mehr Sinn“, meint der Choreograf. Die Texte erzählen von allen Facetten des Gefühls Liebe – auf Italienisch, ohne Übertitel. Aber der körperliche Ausdruck der Tänzer, die Brillanz des Sängerensembles und das Barockorchester Concerto Vocale unter der überaus genauen Leitung durch Attilio Cremonesi schufen ein Gesamtbild, das mit stehenden Ovationen gefeiert wurde.

Einen einflussreichen Freund hat das Festival mit Minister Oppermann gefunden. „Wir brauchen dieses Festival, wir brauchen Theaterformen“, erklärte er in seiner Eröffnungsrede. Kurz darauf sonnt er sich im Kreis von Bekannten auf der obersten Stufe der roten Treppe. Die entspannte Atmosphäre scheint ihm zu gefallen.