Schimmel in der Mitte

Mit „Der Kandidat (1980). Sie leben!“ zeigt der Hamburger Regisseur René Pollesch, dass man sich den Wahlkampf zwischen Schröder und Stoiber als Schreikrampf vorstellen muss. Jetzt war das Stück bei den Theaterformen zu Gast

Vieles im Kosmos von René Pollesch scheint nicht zusammenzupassen. Da es dann aber doch stets zu wortartistischer Globalisierungskritik zusammenfließt, schließen deutsche Theater ihn immer mehr ins Herz. Im Moment würden wohl auch sehr viele Schauspieler gerne einmal einen seiner Stakkato-Texte in den Mund nehmen und wie ein Maschinengewehr ausspucken. Und natürlich würden sie sich gerne einmal in ihrem Schauspielerleben in einem der typischen Schreikrämpfe entseelter Pollesch-Subjekte winden.

Jetzt ist es wieder so weit. Im Rahmen der Theaterformen und in Koproduktion mit dem Hamburger Schauspielhaus gibt es „Der Kandidat (1980). Sie leben!“. Als Zuschauer wird man auf die Bühne umgeleitet, um dort in einer Pollesch-Lounge Platz zu nehmen. Dann kommen Caroline Peters, Catrin Striebeck und Bernd Moss und werden zu jenen Pollesch-Wesen, deren Restsubjektivität dagegen rebelliert, dass sie nur noch Supermarkt-Oberfläche sind. Die drei sitzen im verwahrlost-heimeligen Ambiente, räkeln sich auf dem Piano, balgen im Bett und kommen unter anderem immer wieder auf Polleschs derzeitiges Lieblingsthema: die Berliner Stadtschlossfassade und die Möglichkeit, dass das deutsche Gemüt mit dieser Fassade die ihm gemäße Maske erhalten könnte – hinter der laut Pollesch konsequenterweise ein Supermarkt gebaut werden müsste. Darüber könnten Berlins Stadtplaner ja mal nachdenken und nebenbei grübeln, was im Falle eines Wahlsieges von Edmund Stoiber auf die Hauptstadt zukäme. Schuhplattlern vor der Barockfassade einer angeschimmelten Mitte?

Daneben geht es Pollesch, der Titel signalisiert es bereits, um die Parallele zwischen 1980 und 2002. Damals trat Franz Josef Strauß gegen Helmut Schmidt an. Heute tritt Edmund Stoiber gegen Gerhard Schröder an. Damals unterlag Strauß, die Republik bekam Schmidt, und es gab eine breite Front von Künstlern und Intellektuelle gegen Strauß. Heute gibt es nichts, sieht man einmal von René Pollesch und seinem All-inclusive-Theater ab, in dem die politisch-historische Dimension per Videoeinspielung deutlich gemacht wird. Zu sehen sind Ausschnitte aus Kluges, von Eschweges und Schlöndorffs Film „Der Kandidat“, darunter Bilder eines CSU-Parteitags mit dem siegessicheren Strauß und seinem devot gekrümmten Adlatus Stoiber. Das wird nebenbei gezeigt, während Pollesch gezielt gegen die Protagonisten neoliberaler Politik vorgeht und im neuesten Text einen besonders attackiert: Hamburgs erster Bürgermeister Ole von Beust. Der, so heißt es in einem der diskursiven Schreikrämpfe, lasse vom Hamburger Bahnhofsvorplatz die Stricher wegtransportieren, die er zuvor dort abgeholt habe: „Die alte Ficksau“.

Nachdem Polleschs Theater sich inzwischen von Luzern über das Hamburger Schauspielhaus, die Berliner Volksbühne und das Stuttgarter Staatstheater bis zu den niedersächsischen Theaterformen vorgearbeitet hat, ist es Zeit, eine kleine Phänomenologie des Schreis zu entwerfen. Catrin Striebeck etwa zählt auf jeden Fall zu den Schreikörpern, die beim Schreien ein kleines Feuerwerk der Zuckungen entfalten. Bei Caroline Peters sieht das schon wieder ganz anders aus. Sie schreit explosionsartig, als wolle sie abheben, während Bernd Moss eine eher nach innen gerichtete Schreivariante zeigt, in der sich der Körper kurz krümmt. Jenseits des Schreis und Polleschs Stakkato-Text zur Stadt als Körper und zum Körper als Einkaufsstadt führen die drei Schauspieler vor, wie es wäre, dürften Theaterkinder die Welt erklären. Ein Zuschauer hält zwei Schokoriegel in die Höhe. Dann tragen die drei Akteure jeweils einen aus der Krabbelgruppe wie einen Jet zu den Twin-Riegeln, auf dass sie verspeist und zu Fall gebracht werden.

Und was wird mit den Kanzler-Twins Schröder und Stoiber? Als Antwort knüpft Catrin Striebeck unvermittelt eine Schwarzrotgold-Flagge mit einer Blauweiß-Flagge zusammen. Dann wird das bayerisch-deutsche Patchwork mit einer Popkornkanone bombardiert. Wenn sich Pollesch danach auch noch in die Schlacht mit Claus Peymann stürzt und deutsche Theater als Refugien des Absolutismus bezeichnet, die sich „mit ihrem Scheißkunstanspruch der sozialen Kontrolle entziehen“, meint man, der Mann habe doch zu viel in seinen Text gepackt. Aber wie gesagt: Alles fügt sich zu Wortartistik und lässt ein vornehmlich junges Publikum zurück, das unter anderem grübeln darf, ob Stalin tatsächlich Träger des schwarzen Gürtels war. But who the fuck is Stalin? JÜRGEN BERGER