Tonnenweise Nitrofen – alles klar?

Große Mengen Pflanzengift im Weizenlager – angeblich rechtmäßig entsorgt. EU verschiebt Boykottentscheidung

BERLIN taz/dpa ■ Gern würde der Chronist an dieser Stelle Klarheit im Nitrofenskandal vermitteln. Geht aber nicht: Die Aufklärung befindet sich jetzt wieder auf Expertenebene – und die Experten widersprechen sich. „Die Lagerhalle in Malchin ist die einzige Quelle der Nitrofenverseuchung“, erklärte gestern Ingmar Weitemeier, Chef des Mecklenburger Landeskriminalamtes. Dem widersprach der Chemiker Peter Dräger: „Eine einfache Kopfrechnung zeigt, dass die dort gefundenen Mengen Nitrofen unmöglich eine solche Verseuchung hervorrufen können.“

Der eine beruft sich auf eine neue Probe. „Im Boden der Halle haben wir eine Konzentrationen von bis zu 77,9 Gramm Nitrofen je Kilogramm nachgewiesen“, so Weitemeier. Zuvor hatte eine Staubprobe eine Belastung von 2.000 Milligramm – also zwei Gramm – pro Kilo ergeben. Der Grenzwert liegt bei 0,01 Milligramm. Allerdings, so der Bericht des LKA: „Bei 4 Lieferungen an die GS agri besteht kein Zusammenhang zu Malchin.“

Der Chemiker stützt sich auf sein Fachwissen als Analytiker. Dräger ist Leiter des Neuform-Labors in Oberursel, wo rund 2.300 Reformhäuser aus Deutschland ihre Waren kontrollieren lassen. „Um die fraglichen 500 Tonnen Getreide gleichmäßig mit rund fünf Milligramm Nitrofen zu belasten, wären etwa 12,5 Tonnen Giftstaub nötig“, sagte Dräger. Nach dem, was ihm bekannt geworden sei, ließe sich der Vorwurf der Sabotage nicht von der Hand weisen.

Andererseits waren die in Malchin gelagerten Mengen erheblich, so der LKA-Bericht: „Belege über die Entsorgung von 88 Tonnen Pflanzenschutzmitteln in einer Sondermüllverbrennungsanlage liegen vor.“ Diese seien 1994/95 entsorgt worden. „Darunter 17 Tonnen Trizillin – (der Handelsname von Nitrofen in der DDR) und 500 kg Trizillin-Fegegut“.

Unklarheit auch bei der Mitwisserschaft. Die Wochenzeitschrift Superillu hatte den Insolvenzverwalter Bernd Walte mit den Worten zitiert: „Alle Dokumente, die ich besitze, beweisen, dass jeder Eigentümer und auch jeder Mieter seit 1990 ganz genau wusste, dass hier zu DDR-Zeiten Pflanzengifte gelagert wurden“. Walte dementierte gegenüber der taz diese Darstellung: Jeder, der in der Umgebung der Halle gewohnt habe, wusste etwas über ihren Zweck in der DDR, so Walte gestern.

Mecklenburgs Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD) warf der Norddeutschen Saat- und Pflanzgut AG – diese Lagerfirma lieferte den Weizen an den Futtermittelhersteller GS agri – mangelnde Kooperationsbereitschaft vor. „Wir bekommen die Wahrheit nur tröpfchenweise mitgeteilt“, so Backhaus. Und die EU-Kommission verschob gestern ihre Entscheidung über mögliche Sanktionen gegen Deutschland – wahrscheinlich auf heute.

Den belasteten Masthähnchen und Legehennen im niedersächsischen Kreis Diepholz kann das egal sein. Nachdem bereits am Freitag 11.000 Tiere getötet und anschließend verbrannt worden waren, ereilte gestern 9.000 weitere Hähnchen und Hennen dieses Schicksal. RENI