Ich war im Radio, als es passierte

Pre-Listening-Session: Martin Walser geht mit seinem Roman „Tod eines Kritikers“ für eine Woche auf Sendung

Gerade dachte man, die Debatte um Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ würde abflauen, da wird sie erst so richtig peinlich: Bodo Kirchhoff darf seinen eigenen, demnächst erscheinenden Schlüsselroman zum Literaturbetrieb auf vier Seiten im Spiegel bewerben und Karl Heinz Bohrer in der FAZ Jürgen Habermas wegen dessen Diskussionsbeitrag zur frustrierten Theoriezicke abstempeln.

Es rauscht also weiter im Blätterwald. Martin Walser hat sich derweil auf eine geschützte Lichtung zurückgezogen, fernab der Meinungstreibjagd des Feuilletons. Eine Woche lang liest er nun im Deutschlandradio Berlin jeden Morgen um 10.40 Uhr aus seinem Roman. Das ist die Stunde seiner eigentlichen Leser. Während die Diskursprofis noch übernächtigt in der Tagespresse blättern, sitzt die Büchernation ausgeschlafen vor dem Radio. Rentner und Rentnerinnen gönnen sich nach „Am Morgen vorgelesen“ ihr zweites Kulturfrühstück, Hausmänner und Hausfrauen erledigen nebenher den Abwasch, und Deutschlehrer und Buchhändlerinnen bangen, ob ihre Kassettenrekorder auch wirklich anspringen.

Walser kommt den Menschen entgegen. Den komplizierten ersten Absatz seines Romans überging er am Montagmorgen souverän und begann gleich mit dem zweiten Absatz: „Ich war in Amsterdam, als es passierte.“ So könnte auch ein Krimi anfangen. Walser liest langsam, schafft sympathischerweise seine eigenen Schachtelsätze nicht, ohne zwischendurch nach Luft zu schnappen, und wenn er merkt, dass sich das Subjekt einer besonders aufwändigen Konstruktion in den unendlichen Weiten des Äthers verloren hat, weicht er sogar von seinem Manuskript ab und fügt leserfreundliche Halbsätze ein. – Ist doch nett, denkt die bisher ungeteilte Lesenation und fühlt sich im Anklang an Goethes Gedicht vom „Erlkönig“ von Vater Martin auf seiner Lichtung warm im Arm gehalten, beschützt vor all den dürftigen Geistern des papiernen Waldes: „Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; / In dürren Blättern säuselt der Wind.“

Allerdings fällt auch gleich in der ersten Lesung einer der bösen Sätze, über die so viel geredet wurde. „Ab heute nacht null Uhr wird zurückgeschlagen“, soll der vermeintliche Mörder im Roman dem nach der Figur Reich-Ranickis geformten Kritiker Ehrl-König auf einer Party zugerufen haben: die Verballhornung eines Hitler-Zitats, gegen einen Juden gewandt. Da werden sie erschauert sein, die Rentner und Rentnerinnen, die Hausmänner und Hausfrauen, die Deutschlehrer und Buchhändlerinnen: Hat Vater Martin selbst ihnen jetzt „ein Leids getan“?

Schalten wir also zurück vom Text zu Fragen der Debatte. 1969 hatte Martin Walser in Literatur Konkret in einer kurzen Skizze den Meinungswahn der Bundesrepublik gegeißelt. Damals ließ er seinen Erzähler mit der Überlegung kokettieren, ob man sich den „Sinnlosigkeitsvirtuosen“, die man damals vor allem im Fernsehen vermutete, gleich ganz ergeben solle: „Am besten wäre es, wenn das Fernsehen uns ganz übernehmen würde. Es käme ganz zu uns. Ins Haus.“ Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns in dieser Woche erst einmal Walser zu ergeben. Er kommt ganz zu uns. Ins Haus. Per Radio.

KOLJA MENSING