bücher für randgruppen
: Mensch und Natur im Einklang oder im Zwist

Opfertisch im Wohnzimmer

Auge um Auge, Zahn um Zahn. Diese alttestamentarische Losung scheint auf das amerikanische Reich des Guten, den Bundesstaat Texas, zu passen wie die Faust aufs Auge. Zum jährlichen großen Schlangenfest rannten einst seine Bewohner mit Knüppel und Fanggerät ausgestattet durch das Land und sammelten die Reptilien ein. Unerschrockene Burschen liefen beim Kung-Fu-Todesmarsch barfuß Spießruten auf den armen Geschöpfen und schleuderten sie mit gewagten Tritten zur Seite. Sie enthaupteten sie, nur so zum Zeitvertreib, nähten den lebenden Reptilien gar die Mäuler zu. Das war vor 20 Jahren.

Doch auch Texas ist Teil der Welt, registriert trocken der amerikanische Biologe David Quammen. Und die Welt sei schließlich ein wandelbarer Ort. Tatsächlich gehören diese Veranstaltungen zur allgemeinen Volksbelustigung heute der Vergangenheit an. Viel zu fangen gibt es eh nicht mehr, die meisten der einst verfolgten Schlangen sind sehr selten geworden.

Quammen versammelt in seinem Buch „Die zwei Hörner des Rhinozeros“ Aufsätze, die die Beziehungen von Mensch und Natur schildern. Dabei stellt er Fragen zu so genannten objektiven wissenschaftlichen Resultaten, die ihren ganz eigenen Charme entwickeln: „Wie schnell rennt eine Eidechse ein Gummiband entlang, wenn sie von einer menschlichen Hand gescheucht wird?“ Denn das Tier reagiert möglicherweise ebenso auf das Gummi wie auf die Menschenhand, die nun mal nicht eine Felsspalte ihres natürlichen Habitats ist.

Der Autor begeistert sich an der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der Welt und ihrer belebten Natur. Diese Begeisterung liest sich in ihren oft verblüffenden An- und Einsichten ganz wunderbar. Er weiß zu berichten, dass mit dem Schleimpilz, der gelegentlich als gesellige Amöbe bezeichnet wird, nicht die in Seattle beheimatete Rockband Slime Molds gemeint ist, und geht der interessanten Frage nach, warum Katzen einen Fenstersturz aus dem 32. Stock eher heil überstehen als einen aus dem 7. Stock. So beweist er, dass er sich als Biologe in vielen Bereichen der wandelbaren Welt auskennt.

Was werde ich meiner Nachwelt hinterlassen, fragt der Autor schließlich im Aufsatz „Feste Teile“. Zwei voll getankte, schuldenfreie BMWs in der Garage, Kinder, deren Erbmaterial jeweils zur Hälfte aus einer Zufallsauswahl meiner Gene besteht, oder ein einzelnes, zartes Aquarell? Das alles ist wohl zu kurzfristig gedacht. Die Trilobiten des Kambriums hätten sich um so etwas nicht gekümmert, und doch sehen sie noch heute bezaubernd aus: in Stein verwandelt und schön nach 500 Millionen Jahren. Wir kennen sie aus den geschliffenen Steinplatten mancher Wohnzimmertische, möchte ich ergänzen, in etwas spießigem Zusammenhang. Oder aus Hauffs berühmten Öhringer „Holzmadenbuch“ von 1953 – die schönsten Versteinerungen im Schiefer des Schwarzen Jura. Werden diese Platten mit den Versteinerungen aus Urzeiten einst als Zeugnis enger Verbundenheit des Menschen mit der Natur gelten? Vielleicht interpretiert man sie in ferner Zeit gar als Kult- und Opfertisch des 20. Jahrhunderts? Wir wissen es nicht, sehen hier aber erneut die anregende Kraft dieses ausgesprochen kurzweiligen Buches mit den spannend erzählten Geschichten bestätigt.

WOLFGANG MÜLLER

David Quammen: „Die zwei Hörnerdes Rhinozeros“. Claassen Verlag,München 2001, 384 Seiten, 21 €