Klippauf, klippab

Wenn Liebe und Freundschaft die innere Balance auf harte Proben stellen: John Carneys Film „On the edge“

Seit er denken könne, sagt Jonathan sarkastisch, habe er Weihnachten einmal in der Klapsmühle verbringen wollen. Nun ist es so weit. Nach einem missglückten Selbstmordversuch stellt man ihn vor die Wahl: Gefängnis oder Psychiatrie. Die Psychiatrie ist ein Ort ganz zum Wohle der Patienten: Die Dartpfeile sind aus Gummi und der Teekessel lässt das Wasser nur lauwarm werden. Die Wände sind senfgelb und die Türen erbsengrün gestrichen. Die stationären Patienten dürfen nur Pyjamas tragen, und man trifft sich regelmäßig zur Gruppentherapie bei Dr. Figure.

Jonathan (Cillian Murphy) trägt einen Schlafanzug, der mindestens zwei Größen zu klein ist, und verweigert sich dem Gespräch. Ironisch lässt er den Arzt (Stephen Rea) abblitzen: Man könne doch originellere Fragen erwarten von einem, der studiert und jahrelang Freud gelesen habe. Aber dann sitzt in der Therapie auch noch Rachel (Tricia Vessey) in ihrem wollgrauen Bademantel. Auch sie ist selbstmordgefährdet. Und sie ist „cute“, findet Jonathan.

„On the Edge“ ist ein etwas zu konstruierter Film. Parallel zu seiner Bewegung, die sich auf der Grenzlinie von verzweifelter Tragik und ironischer Komik vollzieht, sind auch seine Protagonisten „on the edge“. Jonathan, Rachel und ihr Freund Toby befinden sich zwischen Leben und Tod. Ins sehr eindeutige Bild gesetzt wird dieser prekäre Zustand immer wieder durch den Blick auf die Klippen der irischen Küste: Hier wollte Jonathan sterben, hier ist Rachels Mutter gestorben, hier wird Toby sterben.

In den Augenblicken aber, in denen sich der Film von dieser thesenhaften Zuspitzung löst, hat er wunderbare Szenen, die das kippelige Lebensgefühl sehr gut zum Ausdruck bringen: Wenn Toby Rachel eines seiner Gedichte vorliest. Oder wenn Jonathan ihr bei ihren Spaziergängen im Park hinterhersieht – ohne jede allzu symbolhafte Inszenierung ist dann klar, dass die Balance schwierig ist und es gerade glückliche neue Entwicklungen wie Liebe und Freundschaft sein können, die diese Balance immer wieder in Frage stellen. In diesen Szenen gelingt es dem Regisseur John Carney auf ganz ruhige Art und Weise, von dem Vertrauen zu erzählen, das allmählich zwischen allen wächst. Toby und Rachel erzählen Jonathan ihre Geschichte, Jonathan und Dr. Figure lernen zumindest, miteinander umzugehen.

Dass der Film gerade in diesen Augenblicken ohne viele Worte auskommt, das tut ihm nur gut. Am Schluss holt Jonathan Rachel von den Klippen weg. Das will nicht viel heißen. Aber man kann ja mal ein Eis essen gehen. ANNE KRAUME

„On the edge“. Regie: John Carney. Darsteller: Cillian Murphy, Tricia Vessey u. a., Irland 2000, OmU, 86 Min. Kinos und Termine siehe cinema taz