Wo jeder seine Gründe hat

Mit warmem Blick: „Gosford Park“, der neue Film von Robert Altman, folgt den Herrschafts-, Liebes- und Arbeitsverhältnissen seiner adeligen und nichtadeligen Protagonisten. Spannung entsteht dabei weniger aus außergewöhnlichen Ereignissen als aus der genauen Zeichnung der Figuren

Räumlich teilt sich der Film in zwei Sphären: die am Kopf und die am Fuß der Treppe

von JAN DISTELMEYER

Bevor die geladene Gesellschaft auf dem englischen Landsitz Gosford Park zur Jagd eintreffen wird, kommt es auf dem Weg dahin zu einer kurzen Begegnung. Auf einer verregneten Straße im November 1932 hält der Wagen des amerikanischen Filmproduzenten Weissman (Bob Balaban) bei dem der Gräfin Trentham (Maggie Smith). Die begrüßende Frage des Amerikaners muss die dünkelhafte Britin wohl schon ob des vertraulichen Tonfalls unbeantwortet lassen. „Ich frage mich, ob wir wohl das gleiche Ziel haben?“ Leicht peinlich berührt setzt daraufhin jede Partei ihre Fahrt fort. Wenig später werden sie mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, Haltungen und Blickwinkeln auf die anwesende Gesellschaft in Gosford Park wieder aufeinander treffen.

Auf dem Weg zu einem Text über diesen Film könnte es zu einer ähnlichen Begegnung kommen. Auch in der Annäherung an Robert Altmans „Gosford Park“ geht es um Ziel und Haltung: Welchen Blickwinkel nehme ich ein, wovon soll die Rede sein? Man könnte zum Beispiel von dem neuen Film des so genannten Altmeisters Robert Altman schreiben und damit den berühmten Veteranen des Hollywood-Autorenkinos, den Schöpfer von „M*A*S*H“ (1970), „Drei Frauen“ (1977) und „Short Cuts“ (1993), nun in seinem neuen Werk suchen. Oder man konzentriert sich auf die Fülle von Stars und auf deren Leistung, den über zwanzig Handlungssträngen Leben zu schenken. Zudem könnte es noch um das erstaunliche Debüt des Drehbuchautors Julian Fellows gehen; um das entworfene Bild der englischen Gesellschaft und wie der Mord, den es in „Gosford Park“ am Ende wie nebenbei aufzuklären gilt, darin eingebettet wird.

Was also ist Gosford Park, und wie komme ich dahin? Vielleicht ist der nächstliegende Zugang ein architektonischer oder territorialer: Über einen Kiesweg an gut gepflegten Gartenanlagen vorbei steuert die Kamera auf das pompöse viktorianische Gebäude zu, das von Baron William McCordle (Michael Gambon), Lady Sylvia (Kristin Scott Thomas), ihrer Tochter Isobel (Camilla Rutherford) und deren Dienstboten bewohnt wird. Zwei Eingänge öffnen sich: Am Vordereingang oberhalb der Freitreppe wird die ankommende Jagdgesellschaft von Jennings (Alan Bates), dem ergebenen Butler der Hausherren, erwartet und ins großzügige Innere geleitet. Am Hintereingang geht es weniger höflich und ruhig zu. Durch ihn begleitet die Kamera das unerfahrene Dienstmädchen der Gräfin Trentham, Mary (Kelly MacDonald), in die Hektik des Domestikentrakts. In den überfüllten Gängen trifft das heimische Personal der McCordles auf die Bediensteten der Gäste; kurz und knapp klärt die Haushälterin Mrs. Wilson (Helen Mirren) Arbeitsvorgänge, Unterbringung und Hierarchien ab. Auch Kommunikation ist Arbeit, und darum wird sämtliches Gastpersonal kurzerhand mit den Namen ihrer Herrinnen und Herren angeredet. Identität ist eine Frage des Besitzes.

Bereits die ersten Minuten auf Gosford Park skizzieren damit eine räumliche Zweiteilung, die mit „Upstairs, Downstairs“ überschrieben werden kann. Diesen Titel trug die großartige englische Fernsehserie, die hierzulande als „Das Haus am Eaton Place“ (1970–75) seit Jahren auf ihre hochverdiente Wiederholung wartet und mit der Altmans Film eine wesentliche Stärke teilt: Wie im Londoner Haus der Belamys mitsamt dem Butler Hudson, der Köchin Mrs. Bridges und natürlich dem Hausmädchen Rose wird auch in „Gosford Park“ vom Leben auf beiden Stufen der Hierarchie erzählt. Geschichte vermittelt sich hier sowohl „upstairs“ auf Seiten der Besitzenden als auch „downstairs“ bei den Untergebenen und nicht zuletzt durch das Verhältnis, das beide Hausteile miteinander verbindet und voneinander trennt.

Wie am Eaton Place liegt auch in Gosford Park das größere Augenmerk auf dem Schicksal jener, denen Geschichte zu schreiben nicht zustand. Nicht zufällig lernen wir Gosford Park zunächst durch die Hintertür und an der Seite von Mary kennen. Auch wenn im Folgenden viel Zeit mit den Problemen, Privilegien und Ängsten der oberen Gesellschaft verbracht wird, so wird das Ende wieder den Dienstboten gehören.

Damit sind erst der Rahmen und das Grundgerüst benannt, in denen sich die Geschichten jener wenigen Tage im Herbst 1932 entwickeln. Sie alle zu beschreiben, würde bedeuten, so ziemlich jedes Zimmer im Anwesen zu öffnen. Also nur ein kurzer Querschnitt: Die Ehe der McCordles ist zur halbwegs friedlichen Koexistenz degeneriert, bei der Baron William seinem Schoßhündchen und dem Hausmädchen Elsie (Emiliy Watson) mehr Zuwendung angedeihen lässt als der snobistischen Lady Sylvia, die ihrerseits Interesse am Kammerdiener des Amerikaners Weissman, Denton (Ryan Phillipe), entwickelt. Ihre elf Gäste sind einander durch Verwandtschaft, Stand, heimliche Lieben, Eifersucht, Neid, Geringschätzung und finanzielle Abhängigkeiten verbunden. Deutliche Fremdkörper sind der britische Filmstar Ivor Novello (Jeremy Northam) und der Produzent Weissman, stigmatisiert durch dessen Herkunft und Hauptbeschäftigung mit „Charlie Chan“-Filmen. Seine Befürchtung, er könne in Plaudereien über sein neuestes Werk, „Charlie Chan in London“, das Ende verraten, kontert Gräfin Trentham mit der ihr eigenen spitzmündigen Freundlichkeit: „Oh, seien Sie unbesorgt, niemand von uns wird den Film sehen.“

Während „upstairs“, wenn man so will, eine Art unausgesprochene Zweiklassengesellschaft existiert, wird „downstairs“ eine ausdrückliche Zweiteilung gelebt. Hier trennt sich die zweite Klasse noch einmal in zwei Schichten und zwei Esstische: Dienstmädchen, Kammerdiener und Fahrer dürfen an der Tafel des Butlers und der Haushälterin Platz nehmen, dem Küchenpersonal ist der hintere Tisch der Köchin Mrs. Croft (Eileen Atkins) vorbehalten. Eine Frage der Ordnung: Je länger und detaillierter diese vielfältigen Herrschafts-, Liebes- und Arbeitsverhältnisse beobachtet werden, desto deutlicher wird, dass genau dieser Rahmen, diese Struktur die eigentliche Geschichte bilden. Ihre Spannung hat darum nicht mit außergewöhnlichen Ereignissen zu tun, sondern mit der Figurenzeichnung derer, die innerhalb dieser Ordnung leben. „Wir haben alle unsere Geheimnisse“, erklärt Sir Williams’ Kammerdiener Probert (Derek Jacobi), und genau davon handelt „Gosford Park“ auf eine spezielle Weise: Er nimmt darauf Rücksicht, indem er angebotene Stereotype auf allen Hierarchieseiten so weit kontrastiert, dass Individuen mit einer eigenen unterdrückten Geschichte sichtbar sind.

„Das Schreckliche auf dieser Erde ist, dass jeder seine Gründe hat.“ Dieser Satz Jean Renoirs über seinen Klassiker „La Règle du Jeu“ („Die Spielregel“, 1939) beschreibt das Verhältnis von gesellschaftlicher Ordnung, Unrecht und persönlicher Teilnahme, von dem „Gosford Park“ handelt. Auch bei Renoir ging es um eine snobistische Jagdgesellschaft, und auch dort stehen die Konsequenzen der sozialen Regeln im Vordergrund. Selbst die anklagende Beiläufigkeit, mit der in „La Règle du Jeu“ am Ende ein Mord geschieht und als Jagdunfall abgetan wird, taucht hier verlagert wieder auf. Sir William wird eines unnatürlichen Todes sterben, der trotz der Bemühungen eines tumben Inspektors (Stephen Fry) offiziell unaufgeklärt bleiben wird.

Man kann sich darüber streiten, ob der gesamte Auftritt von Stephen Fry in seiner ausgestellten Trotteligkeit nicht überflüssig ist. Vielleicht taugt er nur als Kontrast zu Mary, die ihrerseits die wahren Hintergründe des Mordes herausfindet. Doch selbst ihre beiläufige Privatermittlung ist zu keiner Zeit denkbar ohne ein tieferes Eindringen in jenen so offiziellen wie privaten Komplex von Spielregel und Verletzung, der „Gosford Park“ bestimmt. Die Ruhe, mit der sich Altmans Film dabei Momentaufnahmen einzelner Schicksale der Dienstboten widmet, unterscheidet ihn von Renoirs epochalem „La Règle du Jeu“, der in erster Linie die Kälte und den Zynismus der porträtierten Gesellschaft anvisiert. Vielleicht könnte man diesen Blick von „Gosford Park“ als warm bezeichnen; eine Wärme freilich, die sich vor allem „downstairs“, bei Mary, Jennings und Mrs. Wilson, entwickelt. Die Regel des Hauses: Auf seine Weise ist Altmans Film eine in sich geschlossene Mischung aus „La Règle du Jeu“ und „Upstairs, Downstairs“.

Wenn wir am Ende Gosford Park wieder verlassen, wird sich am Grundgerüst der Verhältnisse (bis auf den Tod des Hausherren) nichts geändert haben. Was sich jedoch geändert hat, ist der Blick auf diejenigen, die unten und oben die Struktur des Hauses aufrechterhalten und auf unterschiedliche Weise dafür bezahlen. „Ich bin die perfekte Dienerin“, wird die Haushälterin Mrs. Wilson am Ende erklären, „ich habe kein eigenes Leben.“ Und wir werden wissen, warum dieser Satz genauso wahr wie falsch ist.

„Gosford Park“. Regie: Robert Altman. Mit Kristin Scott Thomas, Helen Mirren, Emily Watson, Alan Bates u. a., USA 2001, 131 Min.