Richtiges Leben und falscher Film

Spartanische Bilder aus einem fremden und sehr vertrauten Land: „Das letzte Kino der Welt“ des argentinischen Regisseurs Alejandro Agresti ist am Donnerstag in einer Vorabaufführung im 3001 zu bestaunen

von JULIAN WEBER

Dies ist kein lustiger Film, warnt uns die Taxifahrerin Soledad im Vorspann. Es stimmt, Das letzte Kino der Welt des argentinischen Regisseurs Alejandro Agresti ist ein Film zum Atemanhalten, urkomisch und tieftraurig zugleich. Er zeigt uns Bilder aus einer anderen Welt. Jean-Luc Godard hat einmal gesagt, er und seine Regie-Freunde hätten der Weltkarte in den Sechzigern ein neues Land hinzugefügt: das Kino-Land. Es ist ebendieses, das Agresti mit seinem Film facettenreich dargestellt hat.

Im Argentinien des Jahres 1976 ist Soledad müde vom Leben in Buenos Aires und fährt mit ihrem Taxi nach Patagonien, wo Straßen plötzlich aufhören und die Welt buchstäblich zu Ende ist. So beginnt ein Road Movie, denkt man, mit ewigwährenden Totalen in blutrot gefärbten Himmel über der staubigen patagonischen Prärie. Nach einem Verkehrsunfall wird Soledad von einem Motorradkurier mitgenommen. Er soll eine Filmrolle in das Örtchen Rio Pico bringen. Kino ist dort die einzige Abwechslung vom Alltag. Und in allen Filmen, die dort gezeigt werden, spielt der Franzose Edgar Wexley mit. Bis sie allerdings im Kino von Rio Pico anlaufen, waren sie sogar schon in den Knästen von Buenos Aires zu sehen. Der Filmvorführer Caruso flickt die verstümmelten Filme notdürftig wieder zusammen. So laufen manche Szenen nun rückwärts, andere sind an der verkehrten Stelle wieder eingefügt. Doch die Dorfbewohner finden sich in dieser neuen, anderen Realität zurecht und – sie leben glücklich damit.

Soledad steigt im einzigen Hotel des Ortes ab. Es wird geführt von Maria, einer verlassenen, enttäuschten und verbitterten Frau. Das letzte Kino der Welt lässt diese und andere soziale Schieflagen in der Handlung mitlaufen, stoppt den rasenden Witz abrupt ab, um dann beiläufig etwas ganz Ernstes zu erzählen. Beim italienischen Komiker Roberto Benigni gibt es ein ähnliches Nebeneinander von Genre und Motiv. Agresti inszeniert jedoch mit einfacheren filmischen Mitteln. Er braucht wenig Einstellungen, seine Bilder sind karg und verleihen den Figuren eine seltsame Würde, die sie auch durch die zahlreichen Stilbrüche nicht verlieren.

Wenn Soledad manche Begebenheiten aus dem Off erzählt, klingt das, als lese sie uns etwas vor. Die jüngeren Dorfbewohner sprechen nur in Floskeln, reden abgehacktes, scheinbar zusammenhangloses Zeug. Sie deklamieren die verkehrt montierten Filmdialoge. Soledad trifft auf Pedro, den Filmkritiker, der ihr ganz unvermittelt seine Liebe gesteht, um im nächsten Moment über Historienromane und Apfelkuchen zu sinnieren. Als der Motorradbote statt einem Wexley-Film eine ausrangierte Filmkamera mitbringt, wird diese von den Dorfbewohnern zum Zwecke der Dokumentation eingesetzt und Soledad als Moderatorin für die dörfliche Wochenschau engagiert.

Sie interviewt fortan die Dorfbewohner. Zum Beispiel Antonio, den Erfinder: Jede Woche stellt er der Bevölkerung von Rio Pico andere Ideen vor. Abgeschieden von der Welt, „erfindet“ er die Relativitätstheorie, den Kommunismus und die Psychoanalyse. Für ungläubiges Kopfschütteln bleibt indes keine Zeit, weil Agresti wieder einen blutroten Himmel vom Ende der Welt einschiebt und der Bürgermeister sagt: „Sowas findet man nicht in Buenos Aires, außer man legt sich auf einen Grill.“ – anspielend auf die argentinische Militärjunta, die Mitte der Siebziger das Land mit brutaler Gewalt regierte. Antonio will seine Theorien auch in der Hauptstadt präsentieren, kehrt aber als gebrochener Mann nach Rio Pico zurück, berichtet von Verhören und Folterungen.

Als der französische Schauspieler Edgar Wexley schließlich höchstselbst am Bahnhof von Rio Pico ankommt, weil er, wie er der jubelnden Menge sagt, ausgezogen ist, um den wahren Charakter des Kinos zu finden, kann man auch dies nur staunend zur Kenntnis nehmen. Aber er ist nicht der Held, den die Bewohner von der Leinwand kennen.

Auch Rio Pico wird eines Tages mit dem Rest der Welt gleichgeschaltet. Alejandro Agresti zeigt das mit einem Blick auf geöffnete Fenster, in denen das bläuliche Flimmern der Fernseher zu sehen ist. „Wenn wir zusammen sind“, sagt Soledad einmal über die Liebe zu Pedro, „ist das wie in einem Film. Überall sind Schnitte, ständig wird etwas unterbrochen.“ Fast wie im richtigen Leben.

Preview: Do, 22.30 Uhr, 3001; der Film startet am 20. Juni