Volkswirtschaftliche Aspekte des Fußballguckens

Verlust und Leidenschaft

Neulich standen wir wieder am Flipperautomaten in der Kreuzberger Langhaarigenkneipe. Ab und an sagte die Maschine „You have the magic“, und im Fernsehen lief „ran-WM-Fieber“. Wir sprachen über den Stand der Dinge. Für M. lief’s ganz gut, ein Uefa-Cup-Platz schien machbar, beim Flippern sowieso, aber auch beim lokalinternen WM-Tipp, bei dem es nicht nur die üblichen Fragen nach Ergebnis usw. gegeben hatte. Man hatte z. B. außerdem darauf wetten können, dass dieser bzw. jener Spieler nach Haus geschickt werden würde – zur Strafe dafür, dass er „eine Alte“ im Trainingscamp „gepoppt“ gehabt hatte.

Gewettet wird viel. Wobei man während dieser WM in Berlin den Eindruck hat, dass sich das Wettgeschehen in einem Transformationsprozess befindet: hin zum Guten, weg vom Schlechten. Früher wettete man in Männergruppen, die gemeinsam eine WM anguckten, und gewann dann mal dreißig Mark, wenn’s hoch kam, oder schloss sich Tipprunden in Betrieben oder Kneipen an. Man tippte einzelne Spiele und häufig die ganze Vorrunde mit unterschiedlichen Punktewertungen: drei Punkte fürs richtige Ergebnis, ein Punkt für die richtige Tendenz. Wenn die Wette etwas genauer gestaltet war, gab es noch einen Zusatzpunkt für richtige Tendenz und korrekte Tordifferenz.

Damals ging es nicht um viel Geld, sondern vor allem darum, das Zuschauen interessanter zu gestalten und die eigene Expertenschaft bestätigt zu bekommen. Die Wetten bewegten sich zwischen Geldsport, Aberglauben, Beschwörung und kleinem Opfer, das man der eigenen Mannschaft oder dem Gelingen des Turniers darbrachte. Irgendwie nervte es aber, dass man die Mitspieler meist kannte und danach immer wütend war auf die konkreten Gewinner, denen man unterstellte, nichts von Fußball zu verstehen. Heute wettet man dagegen auch in der Lottoannahmestelle oder bei oddset, auf dies und das, oder macht es halt mit dem Internet bei diversen englischen Wettbüros. Häufig sieht man junge Männer in der Halbzeit neue Wetten via Handy ordern.

Nichts von Fußball verstehen heißt übrigens, zu vernünftig gewesen zu sein, also zu wenig Lebenszeit ins Fußballgucken oder -spielen investiert zu haben. Die Wut auf solchermaßen fußballunkundige Wettgewinner – …innen ja meist – ist ambivalent. Als Fußballbürger weiß man in seinem Herzen, dass Fußball von Leidenschaft, Unberechenbarkeit, Spielfreude, Magie und Verlust lebt, dass Fußball unter dem Diktat der Ökonomie seinen Sinn verliert. Man weiß, dass der allzu rationale Tipper sich auf die Seite der Ökonomie, also gegen das Schöne stellt, dass er die Utopie des Spiels für ein paar Mark verrät und das Spiel zum Zweck des Gelderwerbs erniedrigt wissen will. Ganz im Sinne des Spiels ist der hohe Gewinn für einen unwahrscheinlichen, aber richtigen Tipp und auch der Fangesang, den Schalker Dänemarkfans aus Berlin beim Achtelfinale gegen England anstimmten, um ihr Idol zu ehren: „Wer fährt den Porsche an die Wand – Ebbe, Ebbe Sand!“ Passenderweise endete das Spiel 0:3.

Oft ist die Rede auch vom volkswirtschaftlichen Verlust, den die WM wegen ihrer kuriosen Anstoßzeiten mit sich bringen würde. In Schweden, so sagte ein Reporter, liege das Minus infolge Gucken-statt-Arbeit zur Zeit bei 200 Millionen Euro. Um- und hochgerechnet wird’s in Deutschland, auch unter Nichtberücksichtigung der Fünf-Prozent-Rabatte, die es für Adidas-Artikel in den Kaiser’s-Drogeriemärkten gibt, etwa zehnmal so viel sein.

Es gibt aber auch volkswirtschaftlichen Gewinn durch vermehrten Bedarf an Babysittern, Fußballbildchen, Kicker-Zeitungen – und durch das ganze schöne Geld, das in den Kneipen, Zelten, Arenen mit den Übertragungen erwirtschaftet wird. Das Gucken an den vielleicht 200 WM-Schauplätzen Berlins ist teuer. Man muss ja auch was essen oder trinken. Die Kaffee- und Croissantindustrie freut’s. An Tagen mit drei Spielen ballert man mindestens 15 Euro weg. Manchmal kostet’s auch 1 Teuro Eintritt. In vielen Beziehungen wird der WM-bedingte Aufmerksamkeitsentzug mit Essen entschädigt. Auch das ist nicht billig. Wenn die Türken ein Tor schießen, gibt es allerdings andererseits noch einmal so viel Fleisch in den Döner oder den gleich ganz umsonst.

Jeden Tag ruft ein Freund aus England an, um das Geschehen zu besprechen. Weil der Fußballverstand in Großbritannien ein höherer ist, flog ich dann nach London, um mich völlig zu ruinieren. Während des Rückflugs ging die Stewardess durch die Sitzreihen und sagte alle zwei Meter, dass Nigeria gerade eine große Chance versiebt hätte und dass es immer noch null zu null stehe.

In Berlin war Fußball als Klassen übergreifendes Fundamentalereignis wieder vorbei. Der Fahrer im Flughafenbus schaute mich an, als hätte ich ein sehr ausgefallenes Interesse, als ich fragte, wie’s denn stehe, die Leinwand am Potsdamer Platz war nicht größer als die in handelsüblichen Londoner Pubs, und ein Bekannter erzählte, „die Autonomen“ seien beim Kamerunspiel größtenteils auf Seiten der Unsrigen gewesen, und es habe da schon fast tätliche Auseinandersetzungen gegeben. DETLEF KUHLBRODT