MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON DIRK KNIPPHALS
: Spuren im Sand

Theodor W. Adorno, Thomas Mann: „Briefwechsel 1943–1955“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 184 Seiten, 24,90 €

Im mondänen Urlaubsort Kampen haben sich viele VIPs getroffen. Folgende Begegnung wird mit Sicherheit in die Literaturgeschichte eingehen, auch wenn sie schon ein Menschenalter her ist. Wir schreiben das Jahr 1921. Thomas Mann verbringt die Tage vom 23. bis zum 31. August auf Sylt. Und noch ein Intellektueller, zu der Zeit allerdings noch ohne intellektuelle Meriten, urlaubt an der Nordsee: der damals 18 Jahre alte Theodor W. Adorno. Man tut, was alle Urlauber am Strand tun; unter anderem geht man spazieren. Und einmal geht der junge Philosoph hinter dem Schriftsteller lange, lange her, dabei, wie man annehmen kann, schwer über sich selbst und sein Weiterkommen grübelnd.

Man weiß von dieser Begegnung, weil Adorno sie Thomas Mann beinahe 44 Jahre später in einem Brief gesteht, der nichts anderes als eine intellektuelle Liebeserklärung darstellt. Der Großschriftsteller begeht seinen 70. Geburtstag; Adorno lässt es sich nicht nehmen, einen geziemenden Glückwunsch zu verfassen. Nachdem er mit einigem rhetorischen und gedanklichen Aufwand seine Lektüreerlebnisse, vor allem der „Buddenbrooks“. gewürdigt hat („ein Stück angeredeten Daseins vor aller Kunst, und eben damit die primäre Erfahrung von Kunst selber“), schreibt er und wird dabei in diesem prekär auf Etikette achtenden Briefwechsel nachgerade intim:

„Im Sommer 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt einen langen Spaziergang hinter Ihnen hergegangen und habe mir ausgedacht, wie es wäre, wenn Sie nun zu mir sprächen. Daß Sie zwanzig Jahre später wahrhaft zu mir gesprochen haben, das ist ein Stück verwirklichter Utopie, wie es einem kaum je zuteil wird.“

Der Strand von Kampen ist inzwischen von Millionen von Touristenfüßen aber und abermal umgepflügt worden, die Spuren dieser beiden bedeutenden Männer im Sand sind längst verweht, und doch können einen diese Zeilen immer noch anrühren. So schreiben Liebhaber, die nach langem Bangen erhört werden oder – wenn dieser Vergleich zu erotisch aufgeladen ist – Fans, die endlich ihren angehimmelten Star treffen dürfen. Die Dynamik von sehnsuchtsvollen Traumprojektionen und den Gefühlen, endlich die ersehnte Anerkennung zu erfahren, wenn sie denn real werden, kann man aus diesen Briefzeilen herauslesen. Strandspaziergänge dienen nicht zuletzt dazu, Pläne zu schmieden und sein Ich zu entwerfen. Adornos Ich-Entwurf im Sand von Sylt hat zwei Jahrzehnte später im kalifornischen Exil, als Thomas Mann ihn für Hilfsarbeiten zum Roman „Doktor Faustus“ einspannte, die ganz große Bestätigung erfahren.

Im weiteren Verlauf des Briefwechsels allerdings wird man feststellen, dass Thomas Mann mit dem jungen Verehrer viel zweckrationaler umging, als es sich Adornos Überschwang ausgemalt hat. Er blieb stets höflich und interessiert, aber nachdem die Arbeit am „Faustus“ erledigt war – Adorno war maßgeblich am Entwurf der dort zitierten Musikstücke beteiligt –, stellte sich das Ungleichgewicht im Interesse aneinander wieder her. Adorno beginnt gewissermaßen wieder hinterherzulaufen. Von der einen Ausnahme des Schreibens vom 30. Dezember 1945 abgesehen, in dem Thomas Mann seine literarische Kollagetechnik verteidigt (und den er sowieso eher an die Nachwelt als an den unmittelbaren Empfänger adressiert), stammen die wirklich gewichtigen Briefe aus der Hand Adornos. Er strengte sich einfach mehr an – das Hinterherlaufen hörte nie mehr auf.

Adornos Briefe der späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahre haben denn auch den Charakter von Zeitdokumenten. Man kann einiges darüber erfahren, was für ein seltsames Gefühl es gewesen sein muss, sich als ehemaliger Exilant kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Land aufzuhalten, in dem die Nazis innerhalb ganz kurzer Zeit von der Bildfläche verschwunden waren, als hätte es sie nie gegeben: „Wenn ich aufrichtig bin, muß ich sagen, daß es immer erst der Reflexion bedarf, um mich daran zu erinnern, daß der Nachbar in der Trambahn ein Henker gewesen sein kann.“

Weitersage-Spiel

Jonathan Rosen: „Talmud und Internet – Eine Geschichte von zwei Welten“. Aus dem Amerikanischen von Christian Wiese. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 114 Seiten, 16,90 €

Wer mag, kann in die Kampener Strandepisode zwischen Thomas Mann und Theodor W. Adorno auch etwas Sinnbildhaftes hineinlegen. Allegorisch gelesen, drückt sie nämlich ganz gut die prekäre Stellung aus, die in unserem intellektuellen Geschäft die Essayisten einnehmen: Vorweg stolziert der begehrte Romancier und Auflagenkönig, die Stütze des Literaturbetriebs. Hinterher schleicht, von Selbstzweifeln und Wunschfantasien geplagt, der essayistisch orientierte Denker. Und wie er sich freut, sobald er als Gleicher unter Gleichen wahrgenommen wird! Geradezu, als sei er getätschelt worden.

Das Ironische an dieser Situation liegt darin, dass man einerseits über die Krise des Romans ja nun wirklich nichts mehr lesen will, so lange und ausführlich ist sie schon vor uns ausgebreitet worden. Andererseits stößt man immer wieder auf überzeugende Herleitungen, nach denen gerade das essayistische Schreiben sich unseren unübersichtlichen Zeiten als angemessen erweist. So auch in dem Essay „Talmud und Internet“ des New Yorker Intellektuellen Jonathan Rosen, einem Glanzstück des Genres. Hier gibt es nicht nur Verblüffendes zu lesen über die Strukturähnlichkeiten des uralten jüdischen Denkens, das sich im Talmud niedergeschlagen hat, mit der intellektuellen Energie, die sich im hypermodernen (und gleichwohl längst stinknormal gewordenen) Internet äußert. Die Begründung, warum man über dieses Thema nur essayistisch, das heißt in diesem Fall sein Thema in mehreren Anläufen versuchsweise einkreisend schreiben kann, liefert Rosen implizit gleich mit.

„Es ist die talmudische Kultur des Nebeneinander, die mir so gefällt“, schreibt er an einer Stelle. Und an einer anderen Stelle heißt es, der Talmud habe „immer schon anerkannt“, dass „Wissensbeherrschung und Ganzheit seit jeher ein Trugbild waren“. Der Talmud ist für ihn nichts anderes als ein jahrhundertelang gewebtes Konvolut von Kommentaren, denen längst der Originaltext, auf den sie sich vermeintlich beziehen, abhanden gekommen ist. Im Talmud diskutieren Schriftgelehrte, eingedenk ihrer eigenen Endlichkeit und Fehlbarkeit, die Gesetze Gottes aus; es geht in ihm um ein zweitausendjähriges Gespräch, um ein „Weitersage-Spiel“ mit allen Missverständnissen – herausgekommen ist ein Buch ohne eigentlichen Autor, ohne Schöpferinstanz, ein Buch, das sich gleichsam selbst geschrieben hat, so wie sich jetzt das Universum des Internets selbst schreibt.

Deutungen, die sich eigentlich ausschließen sollten, stehen nebeneinander, Geschichten arrangieren sich immer neu – diese Situation ist die Realität des Talmuds und des Internets. Menschen, die an die eine Wahrheit glauben wollen, und sonstige Fundamentalisten werden sich in dieser Situation möglicherweise überfordert fühlen. Ein genuiner Essayist wie Jonathan Rosen blüht voll auf. Über die Rabbiner schreibt er: „Ihr System machte aus der Ambivalenz eine Tugend und die Ungewissheit zu einer grundlegenden Glaubensäußerung.“ So verfährt auch Rosen. Ambivalenzen kreist er immer wieder aufs Neue ein. Zwischendurch erzählt er, weil es gut passt, von seinen so verschiedenen Großmüttern. In der allgemeinen Ungewissheit der von uns Menschen geschaffenen und gedeuteten Welt verhält er sich suchend, tastend, ironisch – essayistisch eben. Außerdem enthält sein Stück überragende Sätze, die man sich am liebsten allesamt herausschreiben möchte. Den verblüffendsten und schönsten hat der Verlag zielsicher auf die Rückseite des Covers gedruckt: „Wo, wenn nicht inmitten der Diaspora, braucht der Mensch eine Homepage?“

Schwarzer Ritter

Matthias Altenburg: „Irgendwie alles Sex“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002, 288 Seiten, 8,90 €

Ganz kurz nur: Wenn man zunächst Jonathan Rosen liest und dann in „Irgendwie alles Sex“ blättert, einem Band, der Zeitungsbeiträge von Matthias Altenburg sammelt, weiß man endgültig, warum es nervt, wenn man bei diesem Autor auf die Bezeichnung Essayist stößt. In seinen Einsprüchen gegen Maxim Biller, gegen die Feuilletonisten an und für sich, gegen Touristen auf Fuerteventura, gegen John-Grisham-Leser, gegen was oder wen auch immer, geht Altenburg stets auf den einfachen Gegensatz: Das eine ist gut, das andere ist schlecht. Noch größer als seine Empörungsbereitschaft ist sein Vereinfachungswille. Hauptsache, er selbst kann sich als eine Art schwarzer Ritter im Kampf gegen die Weltdummheit positionieren. Bußprediger meinetwegen. Aber Essayist? Nein.

Mild asozial

Stephan Wackwitz: „Selbsterniedrigung durch Spazierengehen“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 160 Seiten, 18 €

In seinem Roman „Walkers Gleichung“ definiert der Romancier und Essayist Stephan Wackwitz, im Hauptberuf beim Goethe-Institut in Krakau, den Essay als „spezifische Mischung aus lyrischer Selbstdarstellung, Erzählprosa und Argumentationsdrama“, was nur deshalb zitiert sei, um anzudeuten, welche vielfältigen Möglichkeiten das Genre bietet. In den Essays, die Stephan Wackwitz schreibt, kann man diesen Möglichkeiten gleichsam in Aktion zusehen. Es gibt wohl kaum einen Autor, der so behände zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit einerseits, zwischen Melancholie und schierem Jux andererseits hin und her zu schalten versteht.

Dazwischen baut Wackwitz gerne Zitate großer Denker wie Sigmund Freud oder Richard Rorty in seine Texte ein, ohne sich allerdings auf seine Belesenheit groß was einzubilden. Und was das Wichtigste ist: Diese Texte können einen mit auf eine Reise nehmen, bei der man am Anfang noch nicht weiß, wohin sie führen wird. Man weiß sich als Leser aber die ganze Lektürereise über in guten Händen.

Und nun kommt erst das wirklich Schöne: Die möglicherweise etwas angestaubte Form des Essays verliert bei Stephan Wackwitz alles kulturkritische Gehabe. Schwerdenkertum wird man hier ebensowenig finden wie grüblerische Posen. Dagegen handeln die in dem aktuellen Band versammelten Stücke von den wirklich wichtigen Themen. Beschrieben, bedacht und analysiert werden Pubertätsnöte und Beziehungskräche, die „milde Asozialität“ der Männer und Internatsromane, das Spazierengehen im Schwäbischen und in den Vororten polnischer Städte, Pokémon-Figuren, die Größe Pete Townsends und manches mehr.

Essays versuchen sich ja sonst gerne, wahrscheinlich um überhaupt wahrgenommen zu werden, mit Weltwichtigkeit aufzumanteln. Nicht so bei Wackwitz. Ein „schweifendes, assoziatives Weltverhältnis“ sei „zur intellektuellen Arbeit nun mal notwendig“, heißt es bei ihm an einer Stelle. Das mag sein. Vor allem aber nimmt man aus dem neuen Band mit, wie viel Spaß und Erkenntnis sich aus einem solchen Weltverhältnis ziehen lässt.