„Digitalisiertes Erzählen“

Bücher, die sogar Programmierer überraschen würden: Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers über künstliche Intelligenz, Computerspiele und die Literatur des Informationszeitalters

Interview TILMAN BAUMGÄRTEL

taz: In Ihrem Roman „Schattenflucht“ geht es um eine Gruppe von Künstlern und Wissenschaftlern, die Ende der 80er-Jahre in einer Computerfirma in Seattle an der Entwicklung eines Virtual-Reality-Systems arbeiten. Warum werden solche Computerthemen so selten in der Gegenwartsliteratur behandelt?

Richard Powers: Das liegt wohl unter anderem daran, dass das alles noch so neu ist. Im 19. Jahrhundert hat es ja auch eine Zeit lang gedauert, bis die Schriftsteller angefangen haben, sich mit den riesigen Veränderungen zu beschäftigen, die die Eisenbahn und der Telegraf ausgelöst haben. Und das industrielle Zeitalter stellte in vieler Hinsicht eine noch fundamentalere Veränderung dar als das Informationszeitalter. Gerade im Roman gibt es aber auch diesen Anspruch, das bürgerliche Selbst und die Art und Weise, wie dieses Ego auf die Umwelt und Krisen der Gesellschaft reagiert, darzustellen. Die Leute, die Romanciers werden, sind oft etwas romantische Figuren, die aus der Isolation heraus die Gesellschaft beschreiben wollen. Und solche Leute sind häufig sehr misstrauisch gegenüber Technologie, Mathematik und Wissenschaft. Das Tragische daran ist der Glaube, dass man über die Menschheit schreiben kann, ohne die Veränderungen, die in Technologie und Wissenschaft stattfinden, zur Kenntnis zu nehmen.

Sie sehen das offenbar anders.

Ich finde es interessant, diese fehlenden Themen nachzuliefern und die Geschichten zu erzählen, die man sonst nicht liest. Warum machen das andere Autoren nicht? Viele von ihnen fühlen sich wahrscheinlich technisch überfordert und fürchten, sie könnten solche Themen nicht kompetent erzählerisch darstellen.

Systeme wie die Virtual-Reality-Simulation namens Cave, die Sie in Ihrem Roman beschreiben, gibt es heute nicht mehr. Sie sind vollkommen aus der Mode gekommen. Woher haben Sie Ihre Anschauung bezogen?

An der University of Chicago gibt es tatsächlich noch so einen Cave-Simulationsraum wie in „Schattenflucht“. Aber es stimmt, dass man sich von den Utopien, die die Techniker in den 80er-Jahren noch beflügelt haben, heute verabschiedet hat. Darum liegt die dramatische Spannung in „Schattenflucht“ auch nicht darin, ob es den Helden meines Buches gelingen wird, einen glaubwürdigen Virtual-Reality-Simulator zu bauen, sondern wie sie darauf reagieren werden, wenn sie merken, dass ihre Hoffnungen enttäuscht wurden. Ich selbst habe mich lange mit Cave an der Uni beschäftigt. Nicht nur, um das Environment zu verstehen – obwohl es auch eine Weile gedauert hat, bis ich keine „Motion-Sickness“ mehr bekommen habe, wenn ich in dieses Cave gegangen bin. Aber vor allem wollte ich die Leute kennen lernen, die dort arbeiten und diese Virtual-Reality-Umgebungen programmieren. Und nach einiger Zeit haben sie tatsächlich aufgehört, mich wie einen Journalisten zu betrachten. Sie betrachteten mich eher als einen Kollegen, der da herumläuft und an dem Projekt mitarbeitet.

Dabei dürfte es geholfen haben, dass Sie selbst als Programmierer gearbeitet haben.

Ja, es ist immer hilfreich, wenn man an so einem Ort auch ein bisschen die Sprache der Einheimischen spricht.

Warum sind diese Virtual-Reality-Projekte Ihrer Meinung nach gescheitert?

Sie sind gescheitert, weil man bei den Erwartungen, die auf diese Environments projiziert wurden, die Komplexität der selbst gewählten Aufgabe unterschätzt hat. Aus demselben Grund ist ja auch die künstliche Intelligenz gescheitert: weil die Wissenschaftler das Ausmaß dieser Angelegenheiten vollkommen unterbewertet haben.

Die Menschen, die sich in „Schattenflucht“ in ihrem think tank mit virtueller Realität beschäftigen, bilden eine Art Subkultur – der größte Teil der Gesellschaft hat nie von ihnen gehört. Tatsächlich gibt es ja über die Zukunftsszenarien, die in solchen Laboren ausgeheckt werden, kaum eine gesellschaftliche Debatte. Nur während des kurzen Internethypes Ende der 90er-Jahre hatte sich das kurzfristig geändert. Jetzt herrscht in dieser Hinsicht wieder Grabesstille, und die Techniker machen weiter, wie es ihnen gefällt. Glauben Sie, dass die Literatur zu einem Dialog zwischen den Nerds und dem Rest der Welt beitragen kann?

Ja. Ich glaube, dass die Literatur wahrscheinlich der letzte Ort ist, an dem diese Grenzen noch überwunden werden können.

Liegt das vielleicht daran, dass die Literatur größtenteils noch nicht digitalisiert ist? Auch wenn Sie Ihre Romane wahrscheinlich am Computer schreiben, scheinen mir die Auswirkungen, die die Digitalisierung auf den Roman hat, nicht so groß wie zum Beispiel beim Kino …

Ich bin mir ganz sicher, dass auch das Erzählen früher oder später digitalisiert wird. Dann könnte man sich zum Beispiel Figuren mit ausgeprägten Charaktereigenschaften ausdenken und diese wie in einem Experiment in digitalen Welten aussetzen, wo sie dann mit anderen Charakteren interagieren können. Das könnte die erstaunlichsten Effekte auslösen, die vielleicht sogar die Programmierer überraschen würden.

Passiert so was nicht schon in Computerspielen wie „Leisure Suit Larry“, „Grand Theft Auto“ oder „Black & White“, wo man dem Protagonisten durch ziemlich komplett wirkende Welten folgen kann – und sogar selbst als Protagonist oder Weltenschöpfer auftreten kann? Sie selbst erwähnen in ihrem Roman das frühe Internetspiel „Adventure“, an dem die Spieler mitarbeiten konnten …

Ich habe bis jetzt noch kein Spiel gesehen, in dem wirklich stochastische, also nicht determinierte Prozesse möglich sind. In den Spielen, die Sie nennen, hat der Programmierer jede Entscheidung, die ich treffe, vorausbestimmt. Dadurch bleiben diese Spiele immer deterministisch. Es mag sein, dass der individuelle Verlauf eines Spieles immer wieder anders ist, aber die Geschichte selbst kann keine überraschenden Wendungen nehmen, die sich der Programmierer nicht ausgedacht hat …

weil die „Maps“ und „Levels“ begrenzt sind.

Genau. Aber wenn es möglich wird, narrative Strukturen zu schaffen, die komplex sind, und der Verlauf dieser „Levels“ nicht vollkommen vordefiniert ist – dann wird es interessant.